Als trojanischer Esel der NATO in den Dritten Weltkrieg

Von ROLF HOCHHUTH

Anlässlich seines 84. Geburtstags hielt der wohl bedeutendste zeitgenössische deutsche Dramatiker Rolf Hochhuth am 1. April 2015 im Berliner BE-Theater am Schiffbauerdamm eine äußerst wichtige Rede, in der er auf die Gefahren eines drohenden Dritten Weltkriegs hinwies. zeitgeist Online wird die Ehre zuteil, seine Ansprache in vollständigem Wortlaut publizieren zu dürfen.

„Kohl, US-Außenminister James Baker und andere sicherten mir zu, dass die NATO sich keinen Zentimeter nach Osten bewege würde. Daran haben sich die Amerikaner nicht gehalten, und den Deutschen war es gleichgültig. Vielleicht haben sie sich sogar die Hände gerieben, wie toll man die Russen über den Tisch gezogen hat. Was hat es gebracht? Nur, daß die Russen westlichen Versprechungen nun nicht mehr trauen ...“

Gorbatschow zu Kai Diekmann und seiner Redakteurin Tanit Koch BILD-Zeitung, 2. April 2009

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„Das große Karthago führte drei Kriege. Nach dem ersten war es noch mächtig, nach dem zweiten noch bewohnbar, nach dem dritten nicht mehr auffindbar.“

Brecht, 1951

Heute vor 200 Jahren wurde Bismarck geboren, in Schönhausen in der Altmark. Seine oberste Maxime, zeitlebens, ebenso wie die aller Könige von Preußen, war die Pflege engster Beziehungen zu Russland: Vier Zaren waren mit deutschen Fürstinnen verheiratet ...

Doch jetzt – leider und lebensgefährlich – ist unser Umgang mit dem Kreml, weil die deutsche Außenpolitik nur noch im Rahmen der NATO aktiv werden darf, auf einem Tiefpunkt wie selten, seit Stalin 1948–1949 die Amerikaner zur Luftbrücke gezwungen hat, um Westberlin zu ernähren.

An diese moralische Großtat der USA zu erinnern, ist hier unerlässlich, weil sonst der falsche Eindruck entstehen könnte, meine Kritik an der jetzt kriegstreibenden Politik des Pentagons beruhe auf einem Vorurteil gegenüber den Amerikanern. Davon kann keine Rede sein, denn ich fühle mich denen durchaus – auch persönlich – in Hochachtung und Dankbarkeit verbunden.

Ich sage warum: Als Nordhesse aufgewachsen, war ich am 1. April 1945 vierzehn geworden, am 3. April waren die Amerikaner als unsere Befreier da, am nächsten Tag ernannten sie meinen Onkel Holzapfel anstelle des Nazis zum Bürgermeister. Und nach wieder nur einigen Wochen fiel direkt vor meiner Heimat, dem Kreis Eschwege an der Werra, der Eiserne Vorhang durch Errichtung der Ostzone. Niemand zwischen Lübeck und Hof hat jemals DDR gesagt, so ausgeprägt war – aus Angst – unser Widerwille bis 1989 gegen die russische Besatzungszone.

Arte der Kalte Krieg aus in einen heißen, sogar einen atomaren, so werde auf russischem und auf amerikanischem Boden gar nichts passieren – „lediglich“ für ewiglich werde Germany nicht mehr auffindbar sein

Dem Bonner Staat sind wir Grenzländer auch ohne Sympathie begegnet, weil er uns gleich nach seiner Errichtung mit den zwei Viehstempeln: „Zonenrandgebiet Nordhessen“ – ja sogar: „Notstandsgebiet“ gebrandmarkt hat; vermutlich deshalb, weil SPD und FDP anfangs dort die stärksten Parteien waren. Tatsächlich aber auch konnte keiner meiner Mitschüler, hatte er nicht vom Vater einen Laden oder eine Praxis geerbt, zuhause bleiben.

Ich muss das vorab schicken, weil mich mein Thüringer Tonfall schon mehrmals dem Verdacht ausgesetzt hat, sogar aus Sachsen zu stammen, so dass mir unterstellt werden könnte, ich redete ostzonal, wenn ich sage: Ich bin überzeugt, Amerika wird Russland in absehbarer Zeit, ich denke, sogar schon im nächsten Jahr zum Krieg provozieren! Hier die zwei alarmierendsten Gründe für meine Befürchtung:

In Estland, in Narva, ganze 100 (!) Meter von der russischen Grenze „entfernt“ – ja, Sie hören richtig, meine Damen und Herren: 100 Meter, nicht Kilometer –, veranstaltet die NATO eine Parade! Bundeskanzlerin Merkel vermochte noch zu verbieten, dass eine deutsches Kontingent mitparadierte. Doch als kürzlich die Herausforderung des Kremls durch die USA auf den Gipfel getrieben wurde mit einem NATO-Flottenmanöver vor der Krim, im Schwarzen Meer, da konnte die Kanzlerin schon nicht mehr verhindern, dass ein deutsches Versorgungsschiff mitmachte.

Es war jener welthistorische Moment – als solcher von der deutschen Presse, NATO-gehorsam, fast überhaupt nicht registriert –, auf den Kremlchef Putin wörtlich mit der „Bereitstellung unserer nuklearen Streitmächte“ reagierte! Seit 70 Jahren, als auf Hiroshima und Nagasaki die Bombe fiel, hat niemals mehr ein Staatsmann öffentlich diese Drohung in den Mund genommen.

Wenn ich uns Deutsche als den trojanischen Esel der NATO bezeichne, so allein deshalb, weil unsere Presse sich fast überhaupt nicht mit dem befasst, was als Damokles-Schwert über uns hängt: Eine „Vereinbarung“ zwischen Kreml und Weißem Haus: Arte der Kalte Krieg aus in einen heißen, sogar einen atomaren, so werde auf russischem und auf amerikanischem Boden gar nichts passieren – „lediglich“ für ewiglich werde Germany nicht mehr auffindbar sein. Auch England und Frankreich, Sieger über Hitler-Deutschland, sollten verschont werden.

Sogar dem treuesten seiner Verbündeten, dem Bundeskanzler Adenauer, hat das Weiße Haus diese Ungeheuerlichkeit zeit seines Lebens verschwiegen ...

Man kann davon auch in den uferlosen Memoiren Henry Kissingers lesen: Der Außenminister schreibt, diese Vereinbarung sei am 7. September 1972, als Breschnew ihm damit kam, von den USA angeblich nicht akzeptiert worden. Sie wurde aber in den kommenden NATO-Manövern strategisch umgesetzt ...

Schon 1956 übrigens forderte Churchill in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Karlspreises in Aachen, Warschauer Pakt und NATO sollten zur Friedenssicherung einen Nichtangriffspakt abschließen. Adenauer war so entrüstet, dass er die Veröffentlichung der Rede unterdrücken ließ ... Der Presse gab man lediglich eine verstümmelte Fassung, die das Wesentliche an Churchills Vorschlag wegkürzte: Churchill wurde in Aachen und Bonn als senil abgetan ... und war ja auch tatsächlich schon 16 Monate älter als der Bundeskanzler.

Tatsächlich ist den Zusatzprotokollen des Roten Kreuzes zu entnehmen, dass ein uneingeschränkter – auch nuklearer – Krieg, laut Genfer Konventionen, auf unserem Territorium vom so sich nennenden „Völkerrecht“ hingenommen wurde

Auch in deutschen Zeitungen fand folglich das Thema wenig Beachtung – dann wurde es ganz zurückgepfiffen. Heute wird es gar nicht mehr thematisiert. Ich notierte:

Diktatur: Einheits p a r t e i
Demokratie: Einheits p r e s s e

Im März 2015 wandte ich mich – in Vorbereitung dieser Rede – an den langjährigen Parlamentarischen Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Herrn Willy Wimmer, 33 Jahre CDU-Abgeordneter im Bundestag. Herr Wimmer musste meine Befürchtungen nicht nur bestätigen, sondern hinzusetzen, dass der nukleare Kriegsschauplatz Deutschland sogar „völkerrechtlich“ abgesegnet sei ...

Tatsächlich ist den Zusatzprotokollen des Roten Kreuzes zu entnehmen, dass ein uneingeschränkter – auch nuklearer – Krieg, laut Genfer Konventionen, auf unserem Territorium vom so sich nennenden „Völkerrecht“ hingenommen wurde! Doch verlangte man in Genf, dass jenseits der BRD-Westgrenze ein Atomkrieg nicht zulässig sei.

Dies ist eine, da wird mir jeder Leser deutscher Zeitungen Recht geben, uns Normal-„Verbrauchten“ völlig unbekannte Infamie, die das täglich breitgetretene Gequatsche von einem Vereinten Europa als Zynismus entlarvt, als schwarzen Humor.

Dazu jetzt Belege aus E-Mails von Herrn Staatssekretär Wimmer: Er schrieb mir am 22. März 2015 folgende Anekdote, die man leider in zwei Worten zusammenzufassen muss:

Finis Germaniae

Staatssekretär Wimmer vertrat 1989 in einem NATO-Manöver, der sogenannten NATO-Wintex-Cimex-Übung, den deutschen Verteidigungsminister. Da wurden Manöver geübt, von einem kleinen exklusiven Zirkel in der NATO abgestimmt, in deren nuklearem Teil die NATO verlangte, Atomwaffeneinsätze gegen Dresden und Potsdam zu befehlen.

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Zu ergänzen, dass diese NATO-Übungen sich immer orientierten an von den NATO-Mitgliedern als realistisch eingeschätzten Szenarien ... An diesem perfiden Zukunfts-Szenario beteiligten sich übrigens alle NATO-Staaten – außer Frankreich und Griechenland. Nur die deutsche und türkische Übungsregierung protestierten, und nur Deutschland selbst stieg dann während der Übung aus. Der „Krieg“ wurde trotzdem zu Ende gespielt. Die Amerikaner nämlich, und dies gehört zu den ganz bitteren Lektionen aus Wintex 89, setzten sich über die Proteste der Verbündeten hinweg, deren Mitspracherecht wurde auf ein unverbindliches Diskussionsrecht degradiert. Die zweitrangigen Bündnispartner mussten sich weiter an die US-Regie halten, Atomwaffen auf die Gebiete westlich von Russland abzufeuern! Das deutsche NATO-Kontingent sollte innerhalb dieses Manövers durch dessen US-Oberbefehlshaber sogar gezwungen werden, die nukleare Vernichtung Deutschlands selbst durchzuführen!

Wimmer fährt fort: „... habe ich mich außerstande gesehen, auch in einem Übungsgeschehen, dafür die Zustimmung zu geben und den amtierenden Bundeskanzler gebeten, die Übung als Bundesrepublik Deutschland zu verlassen. Dieser Bitte hat Herr Kohl umgehend entsprochen: ,Hört auf mit dem Blödsinn', so dass es zu einem einmaligen Vorgang im Bündnis kam ... Da war Toben im Bündnis angesagt.“

2014 warnte Herr Gorbatschow vor der „Seuche USA“ und einem neuen Kalten Krieg

2014 warnte Herr Gorbatschow vor der „Seuche USA“ und einem neuen Kalten Krieg. Anfang 2015 sprach er bereits von einem Dritten Weltkrieg und seinen dann mehr als naheliegenden atomaren Folgen. Gorbatschow zur Agentur Interfax: „Einfach gesagt, die USA haben uns bereits in einen neuen Kalten Krieg gezogen und versuchen offen, Ihre Vorstellung von Triumphalismus durchzusetzen. was kommt als nächstes? Leider bin ich mir nicht mehr sicher, dass der Kalte Krieg nicht ,heiß' werden könnte. Ich befürchte, die USA könnten das Risiko eingehen.“

Zum Schluss noch der Hinweis, da unter Deutschen offenbar schon vergessen: Herr Gorbatschow ist jener Russe, der nicht nur die Ostzone, sondern alle Staaten des Ostblocks aus den Klauen des Kremls frei – und somit den Warschauer Pakt sterben ließ. Der Dank des Westens – der jetzt zum Dritten Weltkrieg führen muss: Das Vorrücken der NATO ostwärts um 1000 Kilometer, die Installierung von US-Militär-Basen in 130 von 193 Staaten und ein Militärbudget der USA von über 50 % ihres Gesamthaushaltes (2013: 640 Milliarden).

Solche Unsummen müssen vor dem Repräsentantenhaus begründet werden – was nur durch Krieg möglich ist. Die USA werden ihn provozieren, weil sie seit 150 Jahren, seit ihrem Sezessionskrieg niemals einen Schuss auf ihrem Kontinent gehört haben, also seit fünf Generationen nicht, das heißt, seit ihren Ur-Ur-Urgroßeltern! Demnach sicher sind, ihr bald kommender Kampf gegen Russland wird sich ebenso wie die vorangegangenen europäischen Kriege 1914/18 und 1939/45, auch wie die gegen Japan, Korea, Vietnam, nur in sehr fernen Kontinenten austoben. Daheim in Amerika verliert kein Haus einen Dachziegel. Und es wird klotzig verdient werden.