Deutsches Reich – von Versailles bis Versailles

Wir können die Geschichte nicht ändern, wir können nur daraus lernen

Von Prof. ALEXANDER SOSNOWSKI

Im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles wurde vor 150 Jahren das Deutsche Reich gegründet. 48 Jahre später wurde am gleichen Ort ein Vertrag unterzeichnet, der Europa befrieden sollte und genau das Gegenteil bewirkte. Der vorliegende Artikel hinterleuchtet in diesem Zusammenhang insbesondere die Beziehungen zu Russland. Er erscheint zeitgleich mit einem Beitrag unseres Autors Willy Wimmer, ebenfalls anlässlich der Reichsgründung.

Politische Korrektheit führt uns in eine Sackgasse. Wer hätte noch vor einiger Zeit gedacht, dass beim Verfassen eines Artikels zu einem historischen Thema, bei der Verwendung der Worte „Deutsches Reich“, Ängste aufkommen könnten? Wenn wir über Geschichte sprechen, entstehen Situationen, in denen wir verschiedene historische Ereignisse in fast schon äsopischer Sprache erklären müssen. So ist es auch mit der Bezeichnung des Deutschen Reiches. Assoziationen mit der jüngeren deutschen Geschichte lassen uns die Worte – national, Imperium, nationale Interessen – schamhaft vermeiden.

Die Gründung des Deutschen Reiches im Jahr 1871 kann zu Recht als Ausgangspunkt der modernen Geschichte Deutschlands angesehen werden, auch unter Berücksichtigung der dunklen Jahre des Nationalsozialismus. Sie dürfen uns nicht davon abhalten, die Reichsgründung auch als ein wichtiges Ereignis für Europa, ja für die gesamte Welt anzuerkennen.

Innerhalb weniger Wochen breitete sich die revolutionäre Stimmung in der Gesellschaft auf dem gesamten Gebiet von Baden bis Berlin und Wien aus

Selbst wenn wir die Geschichte ändern wöllten, läge dies außerhalb unserer Möglichkeiten. Wir haben auch nicht das Recht, unter moralischen Gesichtspunkten zu bewerten, was vor 100, 200, 300 Jahren geschehen ist. In den meisten Schilderungen und Memoiren von Zeitgenossen ist jedoch genau dies der Fall. Überdies hatten die Verfasser oft selbst nichts mit dem beschriebenen historischen Ereignis zu tun. Und doch gibt es echte Fakten und Quellbelege. Wenn wir Legenden, die uns in Form der historischen Wahrheit präsentiert werden, mit geprüften Daten und Fakten abgleichen, können wir durchaus eine geschichtliche Reihe erstellen, die im Allgemeinen der Realität entspricht.

Ich habe viele historische Dokumente über die Zeit der Reichsgründung sorgfältig studiert. Das offizielle Datum der Gründung des Deutschen Reiches ist der 18. Januar 1871, als der preußische König Wilhelm als erster in Versailles zum deutschen Kaiser ernannt wurde. Dieses Datum ist ein virtueller Anker für uns ist, um unsere Geschichte besser verstehen zu können.

Doch „150 Jahre Deutsches Reich“ ist nicht nur der Januar 1871. Ja, es geschah im Januar, aber einige Jahrzehnte zuvor war bereits klar, dass ernsthafte Veränderungen im geographischen Raum des heutigen Deutschlands einfach unvermeidlich sind. Der geniale Heinrich Heine macht uns auf die Ereignisse von 1848 aufmerksam. In einem seiner Gedichte schreibt er:

„Im Jahre achtundvierzig hielt,
Zur Zeit der großen Erhitzung,

Das Parlament des deutschen Volks
Zu Frankfurt seine Sitzung.“

Der Dichter denkt natürlich an die Märzrevolution von 1848, die zu Recht als ein Vorläufer der Entstehung des Deutschen Reiches angesehen werden kann. Innerhalb weniger Wochen breitete sich die revolutionäre Stimmung in der Gesellschaft auf dem gesamten Gebiet von Baden bis Berlin und Wien aus. Dies machte verfassungsrechtlich möglich, Wahlen zur Nationalversammlung abzuhalten. Am 18. Mai 1848 fand dann in der freien Stadt Frankfurt am Main die berühmte Sitzung des Parlaments des deutschen Volkes statt, über die Heine schrieb.

Berlin im März 1848: die Deutsche Revolution zu Zeiten Heinrich Heines (Quelle: Wikimedia Commons)

 

Der logische Abschluss dieser Zeit war die Gründung des Deutschen Reiches 1871. Das wichtigste Zeichen, der wichtigste Indikator für das übrige Europa war eben die Schaffung eines verfassungsmäßigen Parlaments. In diesen Jahren begann auch Russland eine gewichtige Rolle in der Geschichte Deutschlands zu spielen. Es genügt, an das Abkommen der drei Kaiser zu erinnern, das im Oktober 1873 in Wien unterzeichnet wurde: Es wurde signiert von Wilhelm I., Franz Josef I. und Alexander II.

Russland ist eines der wenigen Länder, das in jenen Jahren die Bedeutung der Schaffung des Deutschen Reiches vollkommen verstanden hat. Es reicht schon, an die Ereignisse nach dem Ende des Krimkrieges von 1856 zu erinnern. Eine Koalition von Westmächten, angeführt von England und Frankreich, schloss sich dem Osmanischen Reich an. Eine wichtige Rolle in diesen Jahren spielte der damalige russische Außenminister Alexander Gortschakow in Wien. Gortschakow war damit beschäftigt, Österreich davon zu überzeugen, nicht gegen Russland zu kämpfen. Ganz am Anfang glaubte Russland, dass Frankreich der wichtigste potenzielle Partner werden könnte. Nach einiger Zeit wurde jedoch klar, dass Preußen der beste und ernsthafteste Verbündete sein werde.

Nachdem Frankreich 1871 gegen Preußen verloren hatte, entstand in Russland das Gefühl, dass das sogenannte Krimsystem als veraltet angesehen werden kann. Der russische Zar beschloss, einige Artikel des Pariser Vertrags aufzuheben. Großbritannien hielt dies für unmöglich. Darüber hinaus hofften die Briten, Preußen heimlich für sich gewinnen zu können. Die Hauptidee war die Vereinigung der drei Länder Großbritannien, Preußen und Frankreich, die zusammen gegen Russland stehen sollten. Bismarck spielte eine Schlüsselrolle dabei, das nicht geschehen zu lassen: Er weigerte sich rundweg, die Rolle des Trojanischen Pferdes im britischen Spiel zu spielen.

Die angelsächsische Idee der Erniedrigung Deutschlands und Russlands besteht fort

Diese Geschichte wurde 1919 bei der Unterzeichnung des Versailler Vertrags weitgehend wiederholt. Mein hochgeschätzter Mitautor, der Staatssekretär a. D. Willy Wimmer, und ich haben darüber in unserem Buch „Und immer wieder Versailles: ein Jahrhundert im Brennglas" geschrieben. Dort untersuchen wir ausführlich die Situation vor der Unterzeichnung des Versailler Vertrags, den demütigenden Plan der Angelsachsen gegen Deutschland und auch gegen Russland.

Wenn ich die heutigen Nachrichten lese und im Internet surfe, kann ich nicht umhin, als das Gefühl zu haben, dass Versailles noch lebt. Die angelsächsische Idee der Erniedrigung Deutschlands und Russlands besteht fort. Insbesondere in den letzten Jahren haben wir echte Versuche gesehen, Deutschland erneut gegen Russland aufzubringen, um den russischen Bär an einen Punkt zu drängen, an dem es kein Zurück mehr gibt – zum Krieg.

Das jüngste Beispiel ist die Geschichte der sogenannten Vergiftung des oppositionellen russischen Bloggers Alexei Navalny. Während des Fluges nach Tomsk fühlte er sich plötzlich schlecht, verlor das Bewusstsein und wurde dringend ins Krankenhaus gebracht, wo er die notwendige Behandlung erhielt. Seine Verwandten wandten sich an Präsident Wladimir Putin mit der Bitte, Navalny zur Behandlung nach Deutschland fliegen zu lassen, da er von Bundeskanzlerin Angela Merkel angeblich eine persönliche Einladung erhalten hatte. Dazu muss man wissen, dass Navalny vorbestraft ist, ein Strafverfahren gegen ihn läuft und er nach russischem Recht das Land nicht hätte verlassen dürfen. Erlaubt wurde es ihm dennoch. Er wurde nach Berlin in die Charité gebracht. Einige Tage später erschienen unbestätigte Informationen darüber, dass Navalny einige Dosen eines chemischen Kampfmittels erhalten habe, vom Typ her ähnlich dem „Nowitschok“. Die Bundesregierung beschuldigte Russland umgehend, gegen das Übereinkommen über die Nichtverbreitung chemischer Waffen verstoßen zu haben. Und das ohne die Daten des Labors vorzulegen, sondern sich lediglich auf Informationen stützend, die als geheim gelten. Lassen Sie mich betonen, dass die Bundesregierung in ihrer Antwort an den Bundestag keine Fakten und Beweise dafür liefern konnte, dass Russland chemische Kampfstoffe eingesetzt und angewendet hat.

Doch das genügte, um neue Sanktionen gegen Russland anzukündigen. Einige besonders Hitzköpfige, vor allem von den Grünen und den Freien Demokraten, gingen noch weiter. Ihre Forderungen grenzen tatsächlich an die Entscheidung, die diplomatischen Beziehungen zu Russland gänzlich zu beenden. Die Fraktion der Grünen forderte nach den Untersuchungsergebnissen der „vermutlichen Vergiftung" eine dringende Reaktion der Bundesregierung: „Dazu gehört, dass man Dissidentinnen und Dissidenten den Schutz der EU garantiert und neue Wege gehen muss, um diese trotz immer stärkerer Einschränkungen und Repressionen durch den russischen Staat effektiv und unbürokratisch zu unterstützen.“

Darüber hinaus fordern die Grünen, ohne an dreiste Äußerungen gegenüber der Russischen Föderation und ihrem Präsidenten zu sparen, eine einheitliche Position der EU, um das Pipelineprojekt „Nord Stream 2“ zu stoppen. Immerhin handelt es sich dabei um eine Partei, die sich selbst als höchst demokratisch betrachtet, im nächsten Jahr sogar der Regierungskoalition anzugehören hofft. Spätestens dann könnte ihre aggressive Rhetorik zu knallharten Regierungsmaßnahmen werden. Es ist klar, auf welche Ebene sich die Beziehungen zu Russland in diesem Fall bewegen würden.

Dafür kritisierte Gregor Gysi, einer der Anführer der Linken, die „Navalny-Untersuchung“ scharf als unplausibel. Gysi bemerkte zu Recht, dass alle so genannten „Fakten" nach Belieben interpretiert werden können. Dafür wurde Gysi von der deutschen Presse sofort beschuldigt, „Moskaus Anwalt" zu sein.

Man möchte hoffen, dass Berlin die Absichten der Teilnehmer am „Fall Navalny" als einen weiteren Versuch, Deutschland und Russland gegeneinander auszuspielen, richtig zu deuten versteht. Seit der Unterzeichnung des Versailler Vertrags 1919 ist Berlin gegen Russland ausgespielt worden. In einem kürzlich erschienenen Artikel schrieb ich, dass einfach der Wunsch besteht, Russland in den Augen der Weltgemeinschaft als ein echtes „Imperium des Bösen“ aussehen zu lassen. Und, wie wir aus der jüngeren Geschichte bereits wissen, sind gegen solche „Bösen“ alle Mittel erlaubt – bis hin zu militärischen. Es ist nur nicht klar, warum Deutschland den Köder der britischen Strategen, die eindeutig versuchen, die Skripals und Navalny auf eine Stufe zu stellen, dermaßen eifrig schluckt. Es bleibt nur noch, dass einer der ganz Großen aus London, Washington oder Brüssel ein Reagenzgläschen mit weißem Pulver schüttelt und erklärt, dass es sich dabei um den in Russland hergestellten „Nowitschok“ handelt.

Das Problem Europas besteht darin, dass es nach und nach den Selbstwert verliert, in dem es sich in die Lösung von Problemen vertieft, die von außen aufgedrängt werden

Das Problem Europas besteht darin, dass es nach und nach den Selbstwert verliert, in dem es sich in die Lösung von Problemen vertieft, die von außen aufgedrängt werden. Hat Europa überhaupt ein eigenes Selbstverständnis und entsprechende Zukunftsvisionen?

Die Forderung nach einem Selbstverständnis und neuen politischen Kräften wird den Prozess des Wandels von Eliten, Macht und vielen veralteten Postulaten beschleunigen. Es gibt leider immer noch keine verständliche Philosophie, die die Gesellschaft einen soll. Seltsamerweise eröffnet die Pandemie in diesem Sinne völlig neue Horizonte. Die Situation erfordert nicht-standardisierte Lösungen, zu denen die derzeitigen „Eliten“ in Europa und Deutschland gerade nicht fähig sind.

Der bekannte und einflussreiche russische Senator Alexei Puschkow, der für sein tiefgreifendes Wissen über Geschichte, einschließlich der Geschichte Deutschlands und Europas, bekannt ist, nahm kürzlich den Dialog mit mir auf. Alexei Puschkow schreibt: „Die herrschende Elite Europas befindet sich in einer historischen Falle, weil sie an einer Doktrin festhält, die die europäischen Gesellschaften zerstört. T. Sarrazin schrieb darüber überzeugend in dem Buch ‚Deutschland schafft sich ab‘. Diese Echos finden sich auch in der Massenkultur – sehen Sie sich das berühmte Video der Rockband ‚Rammstein‘ – ‚Deutschland‘ an, in dem eine schwarze Frau paradoxerweise, aber nicht ohne Grund, das zukünftige Symbol Deutschlands darstellt. In der Zwischenzeit kann die europäische liberale Elite keinen Weg finden und sucht auch keinen Ausweg aus dieser Lehrfalle, die mit der Selbstzerstörung Europas behaftet ist.“

Wenn es zwei Länder, zwei Staaten, zwei Völker auf dieser Welt gibt, die im Vergleich zu anderen Ländern, durch Blut, Siege und Niederlagen, Liebe und Hass eng miteinander verbunden sind, dann sind das zweifellos Deutschland und Russland. Seit Jahrhunderten betrachten Nachbarn diese Staaten, einige mit Neid, einige mit Hass, einige mit Liebe. Es wäre nicht für jeden gut, dass diese Länder zusammenfinden könnten. Während einer langen historischen Periode ihrer Entwicklung waren beide Länder entweder Verbündete und Freunde, dann Gegner und Feinde. Diese beiden Staaten, die durch das königliche Blut, die Kultur und in gewissem Sinne sogar ein inneres Verständnis ihres Platzes in der Geschichte vereint sind, bestimmen maßgeblich die Entwicklung und das Leben Europas und der ganzen Welt.

 

LITERATUR

  • Alexander Sosnowski/Willy Wimmer: Und immer wieder Versailles. Ein Jahrhundert im Brennglas. zeitgeist Print & Online, Höhr-Grenzhausen 2019