„Der Anspruch auf ein freies Tibet ist Vergangenheit“

Im Gespräch mit Helmut Gassner, Deutsch-Übersetzer des Dalai Lama

Von MONIKA HERZ

Helmut Gassner, langjähriger Deutsch-Übersetzer des Dalai Lama, zeichnet ein differenziertes und kritisches Bild der Politik der Tibetischen Exilregierung, was in der derzeitigen Diskussion selten ist und im Westen häufig Entrüstung auslöst. Das Interview macht deutlich: Auch unter Tibetern gibt es ein breiteres Meinungsspektrum als vielfach angenommen. Westliche Tibetbegeisterte übersehen oft, dass ein freies Tibet längst nicht mehr zu den politischen Zielen des Dalai Lama gehört.

zeitgeist: Internetumfragen zufolge sollen rund 70 % der hiesigen Bevölkerung für einen Boykott der Olympischen Sommerspiele 2008 in Peking gewesen sein, während alle „Realpolitiker“ einschließlich des Dalai Lama von dieser Forderung Abstand nahmen. Gibt es innerhalb der Exiltibeter nicht auch solche, die den Kurs des Dalai Lama als zu sanftmütig erachten?

Helmut Gassner: Zu einem möglichen Boykott der Olympischen Spiele wären sicher viele Menschen im Westen aus Sympathie für Tibet schnell bereit gewesen. Bei den genannten Umfragen wurde vermutlich nicht gefragt, ob man auch bereit wäre, dafür den eigenen Arbeitsplatz zu riskieren oder auf die günstigen Produkte aus Asien zu verzichten. Vielen Politikern ist die gegenseitige Abhängigkeit einer funktionierenden Wirtschaft wohl bewusst. Sie wissen auch, dass die Meinung unserer Bevölkerung sehr schnell umschlägt, sobald das Volumen ihres Geldbeutels in Gefahr gerät.

zeitgeist: Angeblich haben die internationalen Proteste China dazu bewegt, ein erstes Gesprächsangebot zu unterbreiten. Kritiker hingegen meinen, dass China diese Gespräche nur zum Schein führen wird, in Wirklichkeit jedoch gar nicht verhandeln wolle. Was wäre Ihrer Meinung nach ein befriedigendes Ergebnis für die Menschen in Tibet?

Gassner: Gespräche zwischen der Exilregierung und China gibt es seit den 1980ern – es ist schon schwierig geworden, das Ziel solcher Gespräche zu definieren, denn Seine Heiligkeit der Dalai Lama hat 1988 den Anspruch auf ein freies Tibet aufgegeben. Er betont seitdem, dass er Autonomie unter China anstrebt. Seit 1959 wird Tibet jedoch von China bereits als „autonome Region Tibet bezeichnet“ und auch dem chinesischen Autonomieverständnis gemäß geführt. Allein die grundsätzlichen Formulierungen sind so vielschichtig geworden, dass sie mein politisches Verständnisvermögen übersteigen.

zeitgeist: „Autonome Region“ und „Freies Tibet“ klingt nach zwei verschiedenen Paar Stiefeln. Demnach gehen die Forderungen westlicher Demonstranten weiter als die Forderungen des Dalai Lama selbst?

Gassner: Ja, seit 1988 strebt Seine Heiligkeit der Dalai Lama nach einer Lösung, die „sowohl für die Chinesen als auch die Tibeter“ von Nutzen ist. „Free Tibet“ ist bei Aktivitäten, die offiziell von der Exilregierung organisiert sind, nicht mehr zu sehen. Dennoch scheint es weder den Tibetanhängern im Westen noch den meisten Tibetern selbst bewusst zu sein, dass der Anspruch auf ein freies Tibet Vergangenheit ist. Unter denjenigen, die verstanden haben, wie gravierend dieser Schritt Seiner Heiligkeit des Dalai Lama war, gibt es zunehmend Unmut. Da es aber äußerst schmerzhafte Folgen hat, wenn man Meinungen äußert, die nicht auf der Linie Seine Heiligkeit des Dalai Lama liegen, sind kritische Stimmen leise.

zeitgeist: Was genau meinen Sie mit „äußerst schmerzhaft“?

Gassner: Intensivste gesellschaftliche Ausgrenzung der eigenen Person oder der Angehörigen, sei es in der Gemeinde, Schule oder wo auch immer, ist ein populärer Mechanismus in der zeitgenössischen tibetischen Gesellschaft, mit dem es möglich scheint, auf Dauer zu jedem beliebigen Thema den Großteil der Bevölkerung mundtot oder gefügig zu machen. Ganz gleich, ob es sich um politische oder religiöse Themen handelt, wenn eine Auffassung nicht der offiziellen Meinung Seiner Heiligkeit oder der Meinung der Exilregierung entspricht, ist die Meinung nicht vertretbar und nicht diskutierbar. Ausgrenzungsaktionen werden gezielt durchgeführt, und wenn sie nicht dazu führen, dass die Betroffenen aus dem Umkreis tibetischer Besiedlung wegziehen, geraten deren Leib und Leben in Gefahr.

zeitgeist: In der linken Szene wird das alte Tibet manchmal sogar als Feudalsystem einer Diktatur der Mönche dargestellt, in dem drastische Strafen wie Verstümmelungen oder auch Korruption an der Tagesordnung waren ...

Gassner: Die Bilder über das alte Tibet schwanken im Westen zwischen einem idyllischen Himmelreich auf Erden und grausamer Unterdrückung der Bevölkerung durch die Herrschenden. Zurzeit mag man sich ernsthaft fragen, ob es überhaupt noch jemanden gibt, der ein differenziertes geschichtliches Bild Tibets sehen will …?

zeitgeist: Der Dalai Lama ist mittlerweile über 70 ist und musste bekanntlich als Jugendlicher Tibet verlassen. Insofern tragen nur über 80- oder 90-Jährige Erinnerungen an die Zeit vor dem Exil in sich. Wissen Sie etwas über derlei Zeitzeugnisse?

Gassner: In der Tat gibt es nur noch wenige, die das alte Tibet erlebt haben. Viele Tibeter, die im Ausland gut etabliert sind, scheinen nicht den Wunsch zu haben, in ihre Heimat zurückzukehren, selbst wenn sie unter der Herrschaft des Dalai Lama stünde. Ein Tibet unter Seiner Heiligkeit wird im Westen oft als Paradies betrachtet. Von Tibetern jedoch hört man hinter vorgehaltener Hand desöfteren, dass sie sich eine Herrschaft unter der gegenwärtigen Exilregierung nicht wünschen. Eine Sehnsucht nach den politischen Zuständen des alten Tibets ist ebenfalls kaum spürbar.

zeitgeist: Dass sich einige Exiltibeter weder das alte Tibet zurückwünschen, noch eine Herrschaft der Exilregierung befürworten, heißt doch aber nicht, dass sie die derzeitige Situation unter chinesischer Herrschaft für gut befinden, oder? Gibt es eine ganz andere Vision für ein freies Tibet?

Gassner: Mit den Tibetdemonstrationen um die Olympischen Spiele scheint vergessen worden zu sein, dass Seine Heiligkeit der Dalai Lama die Zukunft Tibets im „mittleren Weg“ sieht. Von einem Tibeter in Indien ließ ich mir diesen erklären: „Das ist ein Weg, der sowohl für die Chinesen als auch für die Tibeter einen Nutzen darstellt.“ Seine Heiligkeit selbst spricht sehr deutlich von einem autonomen Tibet im chinesischen Staatsverbund, wie schon erwähnt. Ein Tibet unter der Herrschaft eines sich weiter öffnenden China wird auch im persönlichen Gespräch mit Tibetern – sowohl im Exil als auch im Heimatland – nicht selten als realistische und akzeptable Situation zum Ausdruck gebracht. Derart moderate Stimmen können in der gegenwärtigen Atmosphäre von Exilregierung wie auch westlicher Tibeteuphorie kaum ausgesprochen werden, ohne sofort mit dem Stempel „chinesischer Kollaboration“ versehen zu werden. Dass die Exilregierung diese Position trotz des vielfach deklarierten mittleren Weges Seiner Heiligkeit nicht ernsthaft anstrebt, leuchtet ein, verlöre sie doch dann ihre Existenzberechtigung. Warum man solche Stimmen im Westen ungern hört, weiß ich nicht. Ich habe mich allerdings schon gefragt, ob die aktuellen Sympathiebekundungen für Tibet womöglich auch Ausdruck latenter Angst vor China oder gar rassistischer Abneigung gegenüber China sind ...

zeitgeist: Wenn ich Sie recht verstehe, fordert der Dalai Lama offiziell eine „Autonome Region Tibet“ unter der Herrschaft Chinas mit erweiterten Rechten, hat aber eine Exilregierung etabliert, die allein durch die Tatsache ihres Bestehens dieser Forderung widerspricht. Gleichzeitig fordert nun die Weltöffentlichkeit ein „Free Tibet“ und vor allem die Verwirklichung der Menschenrechte – nicht nur in Tibet, sondern in ganz China. Kann man das nicht als äußerst geschickte Wahl der Mittel und sehr kluges Taktieren des Dalai Lama verstehen?

Gassner: Es ist mir weder möglich zu beurteilen, ob es Taktik ist, noch ob es geschickt ist. Von der chinesischen Führung wird es als doppelgesichtiges Vorgehen empfunden, was bei Verhandlungen sicher kein Bonus ist und der Bevölkerung in Tibet wohl eher schadet als nutzt.

zeitgeist: Was genau meinen Sie mit einem „Tibet unter der Herrschaft eines sich weiter öffnenden Chinas“?

Gassner: Im Hinblick auf die Veränderungen in China seit den 80er Jahren, die man vielleicht als ein „Sich-Öffnen Chinas“ bezeichnen mag, und im Hinblick auf die Verbesserung der Lebensbedingungen in Tibet während dieser Zeit, scheint dies bei manchen Tibetern eine Zuversicht auf weitere wünschenswerte Entwicklungen ausgelöst zu haben. Genaueres möge denen überlassen sein, die sich vor Ort und mit Kenntnis der Sprache ein Bild machen wollen.

zeitgeist: Kann es sein, dass es einen schwierigen Widerspruch gibt zwischen der Tradition des alten Tibets, in der der Lama, der spirituelle Führer, immer Recht hat und absolutes Vertrauen genießt – und einem demokratischen Verständnis, in dem jede Meinung erlaubt und sogar als Bereicherung erwünscht ist?

Gassner: Es ist richtig, dass man bei der Anwendung des Buddhismus im Laufe der Zeit eine tiefe Verbindung zu seinem persönlichen geistigen Meister entwickelt. Wenn man über viele Jahre erkennt, dass die Ratschläge des Meisters immer vollständig den Unterweisungen des Buddha entsprechen, wird man sich mehr und mehr ganz auf diese Ratschläge verlassen. Das Gleiche gilt jedoch nicht für einen politischen Führer, auch wenn dieser ein buddhistischer Mönch sein mag. Seine Heiligkeit der Dalai Lama ist ein buddhistischer Meister und gleichzeitig auch eine politische Persönlichkeit. Bei seinen Ansprachen ist nicht immer klar, was Politik und was Buddhismus ist. In dieser Vermischung von Politik und Religion folgen viele Anhänger blind allen Anweisungen ohne weiteres Hinterfragen. Dieses Verhalten ist nicht nur bei Tibetern zu beobachten, sondern in erschreckendem Maße zunehmend auch bei aufgeklärten, in Demokratie geschulten Anhängern im Westen.

zeitgeist: In Tibet lagern abbaubare Bodenschätze im geschätzten Wert von etlichen Hundert Milliarden Euro. Gibt es eigentlich eine Antwort des Buddha darauf, wem diese Ressourcen gehören? Den Tibetern, den Chinesen oder allen oder keinem?

Gassner: Die Bodenschätze in Tibet gehören wohl allen Menschen dieser Erde – es wäre gut, wenn sich diese untereinander vertragen könnten.

Das Interview wurde im Juni 2008 geführt.