Misrata – das libysche Sarajewo?

Von WOLFGANG EFFENBERGER

Verschiedene Äußerungen führender Politiker haben inzwischen erhebliche Zweifel aufkommen lassen, ob es beim Libyen-Krieg tatsächlich nur um den „Schutz“ der Zivilbevölkerung geht. zeitgeist-Autor Wolfgang Effenberger wirft einen Blick hinter die Fassade altbekannter Kriegspropaganda. Bei seinen Recherchen hat er neue aufschlussreiche Fakten zusammengetragen, so etwa auch zur Rolle von Al-Qaida.

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Auf dem G8-Gipfel im französischen Seebad Deauville drehten sich die Themen vor allem um die seit mehr als zwei Monaten in Libyen laufenden NATO-Einsätze. Nach einem Gespräch mit Nicolas Sarkozy am Abend des 27. Mai 2011 unterstrich der führungsstark wirkende US-Präsident Barack Obama: „Wir sind entschlossen, die Arbeit zu Ende zu bringen.“1 „Gaddafi muss gehen“, meinte Gastgeber Sarkozy und Obama pflichtete ihm bei: „Solange Gaddafi die Macht habe und auf Zivilisten schießen lasse, könne die Nato-Militäraktion in Libyen nicht beendet werden.“2

Nur Stunden zuvor hatte der libysche Ministerpräsident Al-Baghdadi Al-Mahmudi in einem Telefongespräch mit dem russischen Außenminister Sergej Lawrow um Hilfe bei der Vermittlung eines Waffenstillstandes gebeten. Auf diese Bemühungen reagierte die NATO-Sprecherin Oana Lungescu noch am 27. Mai 2011 kühl. „Das [Gaddafi-]Regime hat früher ähnliche Erklärungen veröffentlicht und dann mit dem Beschuss von Zivilisten weitergemacht.“3 Die NATO habe darüber hinaus Erkenntnisse, dass die Gaddafi-Truppen in der Nähe der Aufständischen-Enklave Misrata international geächtete Landminen ausgelegt hätten.

Rebellenführer Al-Hasadi gab zu, bereits in Afghanistan auf Seiten von Al-Qaida gekämpft zu haben

Noch im August 2010 wurde der libysche Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi von dem strahlenden italienischen Außenminister Franco Frattini auf dem Flughafen Ciampino/Rom freundschaftlich begrüßt. Die italienische Regierung, die wie andere EU-Staaten vor Beginn der Proteste in Libyen sehr enge Beziehungen zu Gaddafi gepflegt hatte, gehört inzwischen zu seinen erbittertsten Gegnern. Was hat die „westliche Wertegemeinschaft“ so plötzlich und schnell zu den Waffen greifen lassen?

Anfang Februar 2011 kamen die ersten Nachrichten, dass nach den Aufständen in Tunesien und Ägypten, Jemen und anderen arabischen Ländern, auch Libyen von einer unerwarteten Demokratisierungswelle erfasst worden sei. Doch im Gegensatz zu den Nachbarländern gingen die Proteste nicht von der Hauptstadt, sondern von den östlichen und ölreichen Provinzen aus. Dort eskalierte der politische Konflikt schnell in einer bewaffneten Rebellion und spaltete die Führung des Landes.

Während Teile des diplomatischen Korps und der Streitkräfte ab Mitte Februar auf die Seite der Opposition wechselten, kam es am 15. Februar 2011 in Bengasi, Tripolis und einigen anderen Städten unmittelbar zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. In Al-Baida wurden Polizeistationen angegriffen und in Brand gesteckt4 und in der Hafenstadt Derna ein Waffendepot der libyschen Armee erobert. Bereits am 18. Februar war Derna vollständig unter der Kontrolle der Aufständischen.5

Dort wurden die Rebellen von  dem zwielichtigen Abdel-Hakim al-Hasadi angeführt. Das frühere Mitglied der „Libyschen Islamischen Kampfgruppe“ gab zu, bereits in Afghanistan auf Seiten von Al-Qaida gekämpft zu haben. Dabei wurde er 2002 von pakistanischer Seite verhaftet und an die USA ausgeliefert. Diese schickte ihn dann zu Gaddafi ins Gefängnis. Vom Saulus zum Paulus gewandelt fungiert er nun als Verbündeter der „westlichen Wertegemeinschaft“! In seinen Reihen befinden sich auch Al-Qaida-Kämpfer, bei denen es sich seiner Aussage nach um Patrioten und gute Muslime und keinesfalls um Terroristen handele.6 Hasadis Mitstreiter Sufyan Bin Qumu wurde 2001 in Afghanistan von den US-Truppen als Terrorist verhaftet und nach Guantanamo verschleppt. Nach seiner „Umkehrung“ bildete er Rekruten für die Rebellen aus.7

Mit der Resultion 1973 wurde zum zweiten Mal in der Geschichte der UN der Einsatz nahezu uneingeschränkter militärischer Zwangsmittel gegen ein Mitgliedsland autorisiert

Am 23. Februar 2011 bezeichnete Muammar al-Gaddafi die Aufständischen im Osten des Landes als Drogensüchtige und gab Al Qaida und ausländischen Agenten die Schuld an den Ereignissen. „Bizarr“ und „wirr“ lautete das weltweite Medienurteil über Gaddafis Fernsehrede.

Drei Tage später verhängte US-Präsident Obama finanzielle Sanktionen gegen Libyen und schloss auch militärische Optionen nicht mehr aus. Eine derart schnelle Reaktion war bisher nur zu beobachten, wenn wirklich handfeste US-Interessen auf dem Spiel standen. Das war z. B. der Fall, als die Vereinigten Staaten Ende Oktober 1983 im Rahmen der Operation „Urgent Fury“ die idyllische Karibikinsel Grenada handstreichartig besetzten und damit die ihnen nicht genehme Linksentwicklung des Landes beendeten. Im Gegensatz dazu konnte das NATO-Mitglied Türkei massive ethnische Säuberungen und andere Terrorakte durchführen. Die US-Regierung unter Bill Clinton lieferte sogar noch umfangreiche Rüstungsgüter, als die Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung ihren Höhepunkt erreichten.8

In der Nacht auf den 18. März 2011 verabschiedete der UN-Sicherheitsrat die Resolution 1973. Unspektakulär wird darin zunächst ein Waffenstillstand verlangt und ein Flugverbot über Libyen „zum Schutz der Zivilbevölkerung“ erlassen. Doch dann tauchen gleich zweimal im Text drei Worte auf: „all necessary measures“. Mit dieser Formel werden die Mitgliedstaa­ten der Vereinten Nationen ermächtigt, „alle erfor­derlichen Mittel“ einzusetzen, die bedrohte libysche Zivilbevölke­rung auch mit militärischen Mitteln vor Gaddafi zu schützen. Damit wurde nach dem Golfkrieg von 1991 zum zweiten Mal in der 66-jährigen Geschichte der Vereinten Nationen der Einsatz nahezu uneingeschränkter militärischer Zwangsmittel gegen ein Mitgliedsland autorisiert. Ausdrücklich ausgeschlossen wird in der Resolution lediglich die „Stationierung von Besatzungstruppen jeglicher Art auf libyschem Territorium“.9

Keine 24 Stunden nach Vorliegen der UN-Resolution 1973 leiteten Frankreich, Großbritannien und die USA mit ihren massiven „Luftschlägen“ die Operation „Odyssee Morgenröte“ ein. Bald waren die libysche Luftwaffe und deren Radareinrichtungen ausgeschaltet. Nun konnte den Aufständischen umfassende Luftunterstützung gegeben werden. Solange die Truppen von Gaddafi ihre Angriffe auf die Opposition nicht einstellten, würden laut US-Vizeadmiral William Gortney weiterhin die Objekte der libyschen Armee vernichtet werden.10 Koordiniert werden die Attacken der Kampfjets und Marschflugkörper zunächst vom Afrika-Kommando der US-Streitkräfte (AFRICOM), das sein Hauptquartier in Möhringen bei Stuttgart hat.11

US-Präsident Obama hält den Einsatz von Streubomben für unverzichtbar

Nach den Anfangserfolgen der Rebellen konnten Gaddafis Streitkräfte teilweise verlorenes Terrain zurückgewinnen. Inzwischen kontrolliert die libysche Regierung überwiegend die Städte des Westens und des Südens, inklusive der Hauptstadt Tripolis. Seit dem 3. April 2011 wird die etwa 210 Kilometer ostwärts von Tripolis gelegene Hafenstadt Misrata mit ihren 300.000 Einwohnern belagert.

Mitte April 2011 erschien in den Medien ein gemeinsamer, scharf formulierter Brief der Präsidenten Obama und Sarkozy sowie des britischen Premiers David Cameron. Darin wird entschlossen erklärt, Gaddafi mit aller Macht zu verjagen. Das UN-Mandat für den Libyen-Einsatz umfasse zwar nicht den Sturz Gaddafis, schrieben die Staats- und Regierungschefs. Es sei jedoch undenkbar, dass „jemand, der versucht hat sein eigenes Volk zu massakrieren, an dessen zukünftiger Regierung beteiligt ist.“12 Am Ende ihres Briefes griffen die drei Herren tief in die Propagandakiste: „Seine Raketen und Geschosse regneten auf wehrlose Zivilisten herab. Die Stadt Misrata erleidet eine mittelalterliche Belagerung.“ Diesen manipulierenden Bildern folgte keine 24 Stunden später die von in Libyen operierenden westlichen Geheimdiensten bestätigte Meldung: „Gaddafi lässt angeblich Streubomben einsetzen.“ Nun wird befürchtet, dass Gaddafi neben diesen Bomben offenbar auch in Besitz von Giftgas ist.13

Obwohl am 1. August 2010 die internationale Konvention der Vereinten Nationen gegen Herstellung, Lagerung, den Handel und den Einsatz der Streubomben in Kraft trat, hält US-Präsident Obama diese Munition für unverzichtbar.14 Auch werden die USA nicht dem Internationalen Abkommen zur Ächtung von Landminen beitreten. Die USA dürften das Land sein, dessen Streitkräfte diese verfemte Munition weltweit am häufigsten eingesetzt hat und weiter einsetzen wird. Dabei „geht unser Appell“, so der Menschenrechts­beauftragte Markus Löning, „besonders an die USA, Russland, China, Brasilien und Indien.“15

Paul Craig Roberts folgend hat die CIA die Proteste angefacht und auch dafür gesorgt, dass China keinen Nutzen aus seinen Investitionen in Libyen ziehen kann

Die derzeitige Kriegspropaganda lässt Erinnerungen an die Grundmuster der beiden US-Kriege gegen den Irak 1990 und 2003, beim jugoslawischen Bürgerkrieg Anfang der 90er Jahre und beim NATO-Krieg gegen Rest-Jugoslawien 1999 wach werden. All diese Kriege begannen mit einer Lüge: Brutkastenstory, Massenvernichtungswaffen, Massaker von Racak ...16 Vieles scheint sich jetzt zu wiederholen.

In einem Interview mit Press TV äußerte sich der ehemalige Staatssekretär im US-Finanzministerium, Paul Craig Roberts, zur „Revolution“ in Libyen.17 Seiner Meinung nach geht es vorrangig darum, China aus dem Mittelmeerraum zu vertreiben – auch Restjugoslawien pflegte enge Beziehungen zu Peking. China hat in Libyen sehr viel Geld in Anlagen zur Energiegewinnung und andere Baumaßnahmen investiert und betrachtet Afrika als seine zukünftige Energiequelle. Diese Entwicklung wollten die USA durch die Gründung ihres afrikanischen Regionalkommandos AFRICOM verhindern. Diesem Kommando jedoch verweigert Gaddafi die Kooperation. Als dritten Kriegsgrund nennt Roberts die Tatsache, dass Libyen einen Teil der Mittelmeerküste kontrolliert und nicht unter dem Einfluss der USA steht.

Für Roberts hat die CIA die Proteste angefacht und auch dafür gesorgt, dass China keinen Nutzen aus seinen Investitionen in Libyen ziehen kann. Ihm zufolge sind diese „Vorgänge vergleichbar mit den Maßnahmen, mit denen die USA und Großbritannien in den 1930er Jahren Japan unter Druck gesetzt haben, als sie es von der Versorgung mit Öl, Naturkautschuk und Mineralien abgeschnitten haben; das war der Beginn des Zweiten Weltkriegs im Pazifik. Und jetzt machen die US-Amerikaner und die Briten mit China dasselbe“.

Es könnte auch sein, dass den USA eine Basis im Westen Ägyptens äußerst nützlich erscheint. Sollten nämlich die ägyptischen Demonstranten merken, dass ihnen die Früchte der Revolution weiter vorenthalten werden, könnte sich ein machtvoller Bürgerkrieg entwickeln, der auch vor den US-Sicherheitsinteressen nicht Halt machen würde. Wie bei allen militärischen Konflikten seit Auflösung des „Warschauer Paktes“ werden die übergeordneten Motive kaum beleuchtet. Es handelt sich jedoch um knallharte „geo-politische“, „geo-strategische“ und „geo-ökonomische“ Interessen. Synonyme dafür sind „New World Order“ und Globalismus.

Ironischerweise war es Libyen unter Gaddafi, das 1998 den ersten Interpol-Haftbefehl gegen Bin Laden erlassen hatte

Im Jahr 2010 veröffentlichte die Antiterrorbehörde der US-Administration eine Karte von Osama bin Ladens angestrebtem „Pan-Islamischen Kalifat“. Wiederholt hätte Bin Laden und seine Organisation Al-Qaida „in einer Vielzahl an Ländern politisch instabile Situationen und Transformationen ausgenutzt“, so Obamas ranghöchster Antiterror-Berater John O. Brennan, um dann anzufügen: „Die Situation in Libyen wird nun keine Ausnahme sein.“18

Bin Ladens Pan-Islamisches Kalifat: Auf welcher Seite steht Al-Qaida heute? (Bild: Counterterrorism Calendar 2010)

 

Ironischerweise war es Libyen unter Gaddafi, das 1998 den ersten Interpol-Haftbefehl gegen Bin Laden erlassen hatte. Der wurde jedoch von der „westlichen Wertegemeinschaft“ blockiert.

Wenn man dem Bericht des britischen Mittel-Ost-Korrespondenten Richard Spencer Glauben schenken darf, befinden sich der Westen und Al-Qaida jedoch auf der gleichen Seite. Libysche Al-Qaida-Führer hätten inzwischen ihre einstimmige Unterstützung für den Sturz Gaddafis bekundet.19

Die neuen Herren werden nach ihrem Sieg vermutlich ebenso brutal wie Gaddafi herrschen und den kapitalistischen Mächten erlauben, die Ölvorkommen des Landes zu plündern und das Land als Operationsbasis gegen die bevorstehenden Volksaufstände zu nutzen, die den Nahen Osten und Nordafrika erfasst haben.20

 

ANMERKUNGEN
    1. Quelle: „Gaddafi muss gehen“, veröffentlicht am 27. Mai 2011 im Handelsblatt
    2. Quelle: „Gipfel in Deauville: G8-Staaten gemeinsam gegen Gaddafi“, veröffentlicht am 27. Mai 2011 in Focus
    3. Quelle: „Obama und Sarkozy wollen Gaddafi-Rückzug“, veröffentlicht am 27. Mai 2011 auf Merkur online
    4. Quelle: „Libyan police stations torched“, veröffentlicht am 16. Februar 2011 auf Al Jazeera
    5. Quelle: „Libyan Islamists seize arms, take hostages“ vom 21. Februar 2011
    6. Alexander Cockburn: „Libya Rebels: Gaddafi coud be right about al-Qaida“, veröffentlicht am 24. März 2011 in The First Post. Die Ausrufung des islamischen Emirats wurde vom italienischen Außenminister Franco Frattini bestätigt, siehe „Al-Qaeda sets up 'islamic emirate'“, erschienen auf  news.com am 24. Februar 2011.
    7. Quelle: Nick Allen: „Libya: Former Guantánamo detainee is training rebels“ vom 3. April 2011 
    8. Vgl. Noam Chomsky: „Turning the Tide: U.S. Intervention in Central America and the Struggle for Peace“. South End Press, Cambridge 1986, Kap. 2 sowie Noam Chomsky: Wirtschaft und Gewalt: Vom Kolonialismus zur Neuen Weltordnung“. Zu Klampen Verlag!, Springe 2001, Kap. 2
    9. Quelle: Andreas Zumach: „UN-Resolution Libyen: ,Alle notwendigen Maßnahmen'" vom 18. März 2011
    10. Quelle: Ria Novosti vom 25. März 2011
    11. Quelle: Welt online vom 20. März 2011
    12. Quelle: „Libya letter by Obama, Cameron and Sarkozy: Full text“ vom 15. April 2011
    13. Quelle: „Geheimdienste bestätigen Streubomben-Beschuss von Misrata“ vom 16. April 2011
    14. Quelle: „USA verweigern sich Konvention/ Obama hält an Streubomben fest“ vom 1. August 2011
    15. Quelle: „Antipersonen­minen und Streumunition ächten“, Pressemitteilung des Auswärtigen Amtes vom 3. April 2011; während des Vietnamkrieges warfen die US-Streitkräfte über dem Ho Chi Minh-Pfad 260 Mio. Streubomben ab. Noch heute werden in Laos und Vietnam Menschen durch Blindgänger getötet, vgl. Deutsche Welle vom 8. Juli 2008
    16. Aufschlussreich ist der Dokumentarfilm „Es begann mit einer Lüge“ von Jo Angerer und Mathias Werth aus dem Jahr 2001. Dieser belegt eindrücklich die Kriegspropaganda deutscher, namentlich des damaligen Verteidigungsministers Rudolf Scharping, und anderer westlicher Politiker.
    17. Quelle: Paul Craig Roberts: „Die USA wollen China vom libyschen Öl fernhalten“, Press TV-Interview, erschienen in Friedenspolitische Mitteilungen aus der US-Militärregion Kaiserslautern/Ramstein, LP 071/11, vom 24. April 2011
    18. Quelle: Paul Joseph Watson: „US-Regierung unterstützt libysche al-Kaida und schürt gleichzeitig Angst vor Terror in den USA“, veröffentlicht am 20. März 2011 in der englischen Originalversion auf PrisonPlanet.com
    19. Richard Spencer: „Libya: the West and al-Qaeda on the same side“ vom 18. März 2010
    20. Patrick Martin: „CIA-Kommandeur für libysche Rebellen“ vom 30. März 2011