Wir sind die Eingeborenen von Pentagonien

Von WILLY WIMMER

Die Krise in der Ukraine wird gerne als Folge des Aufbegehrens eines Volkes angepriesen, das sich aus dem Joch der Unterdrückung befreien wollte. Und natürlich als Ergebnis imperialistischer Bestrebungen seitens Putins Russland. Immer mehr Menschen zweifeln indes an der Version, die uns über die sogenannten Leitmedien vermittelt wird. Kritiker der ersten Stunde ist zeitgeist-Buchautor Willy Wimmer („Wiederkehr der Hasardeure“), der schon zu seiner aktiven Zeit als Abgeordneter im Deutschen Bundestag kein Blatt vor dem Mund nahm. Auch in diesem Artikel spricht er Klartext: Es gehe in Wahrheit um knallharten Profit, um den Machterhalt der einzigen echten Weltmacht, und die Strategie dorthin sei von langer Hand geplant. Die Dummen seien einmal mehr die Europäer.

Rund 70 Jahre nach dem europäischen Ende des Zweiten Weltkrieges und gut 150 Stratfor-Jahre nach dem erklärten Ziel, eine dauerhafte Feindschaft zwischen Russen und Deutschen zu bewerkstelligen, gibt es eine Gewissheit über die US-amerikanische Zielsetzung auf dem euro-asiatischen Kontinent: Je nach Bedarfslage wird eine Politik betrieben, die maximalen Einfluss garantiert und im Aggregatzustand wunschgemäß verändert werden kann. Mal Krieg, mal Frieden in Maßen, und mal irgendwas dazwischen.

Das sollte man sich in Erinnerung rufen, wenn – wie in diesen Tagen geschehen – der amerikanische Außenminister Kerry vor einem Rückfall in den „Kalten Krieg“ warnt. Vor Minsk II hätte nicht viel gefehlt und wir hätten den europäischen Schießkrieg gehabt, nachdem durch die von Washington aus betriebene Politik die wesentlichen Ursachen für den Konflikt in der Ukraine mit Tausenden von Toten gelegt worden waren. Washington bemüht sich nach Kräften. Was will Kerry eigentlich?

Wie 1914 fiel der Startschuss auf dem Balkan, mit dem völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien

Dabei muss die US-amerikanische Politik insgesamt – seit der Charta von Paris aus dem Jahr 1990, in der das friedliche Zusammenleben in Europa konkretisiert worden war – betrachtet werden. Wir in Europa gingen unisono davon aus, dass endlich einmal der Teufelskreis von Krieg und Krieg durchbrochen werden konnte. Die Vision eines Michael Gorbatschow vom „gemeinsamen Haus Europa“ war mit den Händen zu greifen und man begann, sich dementsprechend einzurichten. Weit gefehlt!

Die USA hatten frühzeitig, vermutlich bereits vor dem eingeläuteten Ende des „Kalten Krieges“, eine Ahnung davon, dass ein auf Frieden und gute Nachbarschaft ausgerichtetes Europa nicht in ihrem Interesse sein würde. Zielgerichtet ging man daran, die Wirtschaftsordnung vom gebändigten Kapitalismus, die „Soziale Marktwirtschaft“, zu beseitigen zugunsten eines „Shareholder Value“, einen rücksichtlosen Raubtierkapitalismus. Im politischen Kontext verstieg sich die spätere deutsche Bundeskanzlerin zu dem Begriff der „marktgerechten Demokratie“.

So einfach war es allerdings nicht, Europa wieder für den Krieg zu öffnen und die europäische Zukunft an die europäische Vergangenheit zu koppeln. Zuerst mussten jene internationalen Organisationen wie die UN und die OSZE in die Bedeutungslosigkeit geführt und die seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges in Europa geschaffene Völkerrechtsordnung beseitigt werden, bevor durch USA, NATO und EU wieder die Kriegstrommeln geschlagen werden konnten.

Das europäische Telefon steht nicht, wie Henry Kissinger sich das einmal wünschte, in Brüssel, nein, der Hörer wird in Washington abgenommen

Wie 1914 fiel der Startschuss auf dem Balkan, mit dem völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien. Man scheute nicht davor zurück, offen von der Korrektur einer Fehlentscheidung des alliierten Oberkommandeurs Eisenhower aus dem Jahr 1944 zu sprechen. Der spätere amerikanische Präsident hatte es seinerzeit versäumt, US-amerikanische Bodentruppen zur Regionalkontrolle auf dem Balkan zu stationieren. Der Bombenterror gegen Belgrad war nur der Beginn einer kriegerischen Zeitrechnung, die mit dem Konflikt in der Ukraine nun die höchstmögliche Eskalationsstufe erreicht hat.

Die europäische Wirklichkeit und das politische Ziel der Regierungen sahen ganz anders aus. In kaum etwas wird das so offenkundig wie in der Konstruktion der beiden, für die russischen Streitkräfte bestimmten Hubschrauberträger in französischen Werften oder im Bau eines Gefechtsführungszentrums für ebendiese Armee durch eine deutsche Firma. Alle, aber auch alle Signale waren in Europa auf Zusammenarbeit eingestellt und niemand hierzulande hatte den Eindruck, diesen Zustand mit einem Verlust der eigenen Sicherheit und Unabhängigkeit bezahlen zu müssen. Man hatte die Rechnung jedoch ohne den Washingtoner Wirt gemacht, der es sich in der Ukraine nicht nehmen ließ, nazistische Kräfte gegen die im Zweiten Weltkrieg von diesen Kräften verheerten Russen grenznah in Stellung zu bringen.

Man plustert sich wieder auf und die Stellungnahmen von NATO-Generalsekretären respektive NATO-Generalen in Richtung Kriegsförderung haben es in sich, unabhängig davon, dass man sich mit Waffen gefährlich nahe an die Kehle geht, wohl auch, um einen Kriegsgrund zu provozieren. Tonking im südchinesischen Meer lässt grüßen – und die europäischen Regierungschefs lassen sich das bieten. Im politischen Sinne gehört NATO-Generalsekretär Stoltenberg aus dem „Fußnotenland“ Norwegen in „mentale Ketten gelegt“ – und die Generale entlassen. Den Preis müssen nicht sie, sondern die Völker bezahlen – wie immer. Im Westen also noch immer nichts Neues.

Der moderne Dreiklang lautet: Aushorchen, Abkassieren, Entrechten

Die Lage ist für Washington äußerst kommod: Europa kann sich drehen und wenden, wie es will. In dem Sinne, wie sich der amerikanische Vizepräsident Jo Biden stets auszudrücken pflegt, hat man Europa am Haken. Senator McCain würde es vermutlich noch drastischer formulieren und man müsste ihm bei der Beschreibung des Umstandes wohl oder übel Recht geben. Man lehrt uns sogar, dass die gegen Russland verhängten Sanktionen nichts mit Russland zu tun haben. Dafür genügt in diesen Monaten der Blick auf die Zahlen des bilateralen amerikanisch-russischen Handels, der seit Verhängung der Strafmaßnahmen kräftige Aufwärtsentwicklungen macht: ein Europa-gestütztes Konjunkturprogramm zugunsten der USA. Polnische Obstbauern müssen jetzt den Weg über andere Staaten nehmen, um den russischen Markt beliefern zu können. Amerikanische Farmer indes machen es direkt. Nicht nur in Moskau wird jeder die Botschaft verstehen: Das europäische Telefon steht nicht, wie Henry Kissinger sich das einmal wünschte, in Brüssel, nein, der Hörer wird in Washington abgenommen.

Dabei geizt Washington nicht einmal mit Offerten an die Adresse aller EU-Europäer. Der moderne Dreiklang lautet: Aushorchen, Abkassieren, Entrechten. Kalte Wut steigt in einem hoch, wenn heute noch mit langen Fingern auf Mielke und seine Schlapphüte gezeigt wird, um die Vorzüge einer demokratischen Gesellschaft deutlich zu machen. Über kurz oder lang wird sich vermutlich herausstellen, dass in amerikanischem Auftrag bei dem wohl zweifelfrei abgehörten Handy der deutschen Bundeskanzlerin der eigene Nachrichtendienst über die bereitwilligst zur Verfügung gestellte Selektoren aus Washington die Handlangerdienste geleistet hat.

Gleichzeitig drängt sich ein anderes Bild auf: Hier haben fremde Mächte sich Teile des deutschen Staatsapparates bemächtigt, und man hat sich im Kanzleramt bestenfalls auf dem Flur kurz darüber unterhalten, wie es vor wenigen Tagen ein ehemaliger Verantwortlicher vor einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum Besten gegeben hatte. Regierung sieht anders aus.

In dem politischen Chaos, das unsere Tage bestimmt, ist es regelrecht untergegangen, dass es Präsident Obama höchstpersönlich gewesen ist, der die allfälligen Steuereinnahmen jener US-amerikanischen Globalkonzerne einstreichen konnte, die sich auf dem europäischen Finanzkarussell durch Verschieben der Gewinne von Land zu Land der europäischen Steuerpflicht entzogen hatten, obwohl sie hier fast konkurrenzlos Geschäfte machen und die europäischen Konsumenten sich an ihnen erfreuen. Dem Vernehmen nach hat Obama mehr als 200 Milliarden Euro/Dollar auf diese Weise in seine klammen Staatskassen geschwemmt. In der modernen Geschichte nannte man das wohl „Kapitulationen“, wenn schwache Staaten gezwungen gewesen waren, übermächtigen Konkurrenten den eigenen Staat für räuberische Fischzüge zu öffnen, um an Geld zu gelangen.

Der Blick ins Grundgesetz lohnt sich nicht mehr, weil die Parlamentsmehrheiten ohnehin machen, was sie wollen

Weil das alles nicht reicht, muss TTIP her, damit das EU-Europa zu dem seit 1992 beabsichtigten amerikanischen NATO-Vorfeld verkommt. Die berühmten Spatzen pfeifen es von allen Dächern, dass die bisherige Form etablierter Schiedsgerichte das Ende des Rechtsstaates und der parlamentarischen Demokratie zugunsten einer Herrschaft US-amerikanischer Großkanzleien bedeuten würde. Heute bereits kann man genau die nächsten Schritte definieren, um EU-Europa endgültig aufs Kreuz zu legen: Es muss die österreichische Neutralität und das System des Volksbegehrens in der Schweiz fallen. In beiden Nachbarländern wird kräftig diesem Ziel zugearbeitet. Nachfolgende Generationen werden dann nicht mehr wissen, dass man in Europa dem Frieden verpflichtet sein kann und eine Demokratie möglich ist.

Man lächelt in Deutschland etwas schräg, wenn Leute nach einer neuen Verfassung rufen oder gar die Frage nach der Souveränität stellen. Die Ecke, in die diese Leute gehören, ist schnell gefunden. Aber was ist mit den Regierenden, die unser Grundgesetz im Kernbereich zerfetzen? Von deutschem Boden soll nie mehr ein Krieg ausgehen. Das Grundgesetz ist da knallhart. Der Präsident des Deutschen Bundestages wagt keine Widerworte, als ihm in diesen Tagen ein Bericht über die Aushändigung der Bundeswehr an den amerikanischen Präsidenten mit den Worten präsentiert wird, nachdem wir ohnehin keine nationale Armee mehr haben. Der Blick ins Grundgesetz lohnt sich nicht mehr, weil die Parlamentsmehrheiten ohnehin machen, was sie wollen. Siehe Bundeswehr und siehe Angriffskriege.

Im Köln der Besatzungszeit kannte man das dazugehörende Lied: „Wir sind die Eingeborenen von ...“. Man muss es nur der neuen Zeit anpassen.

 

LITERATUR