Ist Risis "radikaler Mittelweg" radikal genug?

Dieses Buch stellt sicher eines der wichtigsten „theologischen“ Bücher der Gegenwart dar. Die eigentliche Theologie wird ja heute nicht an unseren staatlich-theologischen Fakultäten gemacht (die längst nicht mehr an die Universitäten pluralistischer Staaten gehören), sondern von den freien, nicht durch Gehälter und Ehren bestochenen Geistern, von Köpfen, welche die uralte Weisheit über die göttliche Natur des Universums und des Menschen (Theosophie) für unsere Zeit neu zur Sprache bringen.

Armin Risi hat sich mit diesem Buch erneut als einer der profiliertesten „Theosophen“ (um nicht den auf kirchlichen Monotheismus verengten Ausdruck „Theologen“ zu verwenden) erwiesen. Er zieht allerdings die Selbstbezeichnung „Theist“ vor. Er stellt heraus, dass der Atheismus nur der moderne Zwillingsbruder eines konfessionell verengten Monotheismus ist,  weshalb im Allgemeinen Bewusstsein die einzige Alternative zu den kirchlich-monotheistischen Doktrinen noch immer zu lauten scheint: Atheismus.

 

Atheismus als Materialismus

Nicht jeder Atheismus sei materialistisch. Es gebe sogar einen „esoterischen Materialismus“, vertritt Risi (151, es werden nicht Seitenzahlen, sondern die nummerierten Kurztexte zitiert). Die gängige Form des Atheismus sei jedoch heute derjenige der Wissenschaft oder vielmehr im Gewande der Wissenschaft.

„In der modernen Wissenschaft herrscht das Dogma vor, Wissenschaft müsse materialistisch sein, und alles, was nicht materialistisch (= atheistisch) ist, sei nicht wissenschaftlich“ (20).

Das gilt zumindest für die Naturwissenschaften – während die Geisteswissenschaften, so möchte ich hinzufügen, mit ihrer Grundlagenwissenschaft, der Philosophie, weithin gar nicht mehr als logisch geleitete strenge Wissenschaften, sondern als einseitig empirische und historische Stoffsammlungen betrieben werden. Wir sind in den Geisteswissenschaften vorerst wieder in ein Zeitalter der Jäger und Sammler zurückgefallen.

„Monotheismus und Atheismus hatten die letzten zwei- bis dreitausend Jahre Zeit, die Welt zu gestalten und das Denken der Menschheit zu prägen. Beide führten, von entgegengesetzten Seiten her kommend, zu Feindschaft unter den Menschen, zu Kriegen und Zerstörung. Deshalb lautet heute das Gebot der Stunde: Überwindung von Atheismus und Monotheismus (20).

Hier wäre vielleicht zu ergänzen, dass der A-theismus schon seit der Antike, keine gleichursprüngliche Strömung neben Polytheismus und Monotheismus war, sondern stets eine sekundäre Absetzbewegung, sei es vom polytheistischen Götterhimmel (in diesem Sinne wurden nicht nur die rationalen Skeptiker der Antike, sondern sogar die frühen Christen „Atheisten“ genannt), sei es im Sinne der neuzeitlichen Leugnung des jüdisch-christlichen Monotheismus im Namen der sich von der Theologie emanzipierenden Wissenschaft.  Risis Grundvorstellung, die auch seine Wortwahl “Theismus” (statt etwa Theosophie) motiviert, lasst sich folgender skizzieren:

 

Theismus

areligiöse Abweichung:                                    religiöse Abweichung:

Atheismus                                                   Monotheismus

 

Ich habe allerdings Zweifel, ob die geschichtliche Belastung des Wortes „Theismus“ solche an sich gut mögliche, aber unübliche Unterscheidung von Monotheismus zulässt (und solche Zweifel werden am Schluss bestätigt werden). Doch geht es nicht um Worte, sondern um gedankliche Konturierung.

Was heißt „Theismus“ im Unterschied zu „Monotheismus“?

Es kommt nun vor allem darauf an, den Unterschied zwischen dem überkommenen konfessionellen Monotheismus und dem, was Armin Risi mit Theismus meint, möglichst genau zu erfassen.

„Monotheismus ist der Glaube an einen einzigen Gott, Theismus ist der Glaube an einen absoluten Gott“ (21). – „Alles Relative hat einen direkten oder indirekten Bezug zum Absoluten und findet seine eigentliche Bedeutung nur in dieser Beziehung“ (23).

Während das Absolute das Gegensatzlose sei, beinhalte der Begriff „der einzige Gott“ die Ausschließung der anderen Gottesvorstellungen und Religionen.

„Der monotheistische Gott ist nicht gegensatzlos, d.h. nicht absolut, sondern absolutistisch. Er ist eine menschliche Projektion. Er existiert nur in der Vorstellung von Menschen, die ihr relatives Gottesbild verabsolutieren“ (23).

Das sind harte Worte, und doch bezieht sich diese Art der Abgrenzung des Theismus gegen den Monotheismus eher auf eine Geisteshaltung denn auf Unterschiede in der „Sache“. Kein Wunder, dass Risi auch die abrahamitischen Religionen, die wir als monotheistisch zu benennen gewohnt sind, als „in ihrem Kern theistisch“ bezeichnet (24). Wir werden darauf zurückkommen. Die ersten Kapitel können für die sachliche Abgrenzung noch nicht befriedigen, wenngleich dort manches (religions-)psychologisch Richtige gesagt wird. Erst im siebten Kapitel „Was ist Realität?“ kommt der Autor zu den sachlichen Gründen der Unterscheidung von Monotheismus und Theismus, indem er „Realität“ zu definieren sucht. Denn Philosophie sei „Streben nach Erkenntnis von Realität“ (61).

„Realität ist das Zusammenspiel des Relativen mit dem Absoluten. Realität ist nicht einfach nur das Relative (‚alles ist relativ‘), und Realität ist nicht allein das Absolute (‚alles Relative ist Illusion‘). Das Relative und das Absolute gehören zusammen als Ganzheit, denn das Absolute enthält das Relative – und nicht umgekehrt, wie Atheisten behaupten (‚das Absolute ist ein Produkt des Relativen‘ – ‚Gott ist eine Projektion des Menschen‘)“ (61).

Dieses Übergreifen des Absoluten über das Relative hatte schon Hegel energisch betont (den unser Autor selbst nicht einbezieht). Die entscheidende Frage der Einheit von Absolutem und Relativem könne aber, so Risi weiter, atheistisch, monotheistisch und theistisch definiert werden.

„Einheit in der theistischen Definition ist das ewig Unteilbare und Ungeteilte jenseits aller Dualität: die Individualität. (…) Die grundlegende Eigenschaft der ewigen Einheit ist ‚ungeteiltes Sein‘individuelles Sein. (…) Individualität ist das ‚Sein jenseits von Dualität‘ und bezeichnet die Eigenschaft, ein Individuum zu sein. Im Buch Licht wirft keinen Schatten nenne ich dies die ‚philosophische Weltformel‘: Jenseits von Dualität und Nondualität ist Individualität die absolute Realität“ (66). – „Realität aus theistischer Sicht ist die ewige Individualität: das ewige Sein und Bewußt-Sein als Individuum (‚geistiges Wesen‘). Weil Realität allumfassend ist, ist Individualität die grundlegende Eigenschaft, sowohl im Relativen als auch im Absoluten. Wir als relative Lebewesen sind ewige Individuen, und das Absolute ist ewiges ‚Individuum‘ (ungeteiltes Sein und Bewußtsein) mit allen Aspekten des bewußten Seins, insbesondere Liebe und Wille“ (68).

Hier nun kann ich Armin Risi zwar im Ergebnis zustimmen, nicht aber im gedanklichen Weg der Schlussfolgerung, nicht in der Methode. Und diese ist für eine wissenschaftlich ernst zu nehmende, d. h. begründende Philosophie nicht minder wichtig als das Ergebnis, weil dieses durch methodische und logische Unstimmigkeit selbst in Mitleidenschaft gezogen, ja nichtig  wird.

Das Bedürfnis nach moderner Reflexions-Methodik

Wenn die übergreifende Einheit der Realität jenseits des scheinbaren Gegensatzes von Absolutem und Relativem als „Individualität“ bezeichnet wird, so ist das eine höchst ungewöhnliche Ausdrucksweise. Dass diesem „ungeteilten Sein“ dann Bewusstsein, ja „alle Aspekte des bewussten Seins, insbesondere Liebe und Wille“ zugeschrieben wird, stellt jedoch logisch einen großen Fehlschluss dar: Es gibt keinen Schluss auf Bewusstsein, zumal auf Selbstbewusstsein, Liebe und Wille, wenn man nicht von diesen von Anfang der Argumentation ausgeht. Dies ist der meines Erachtens unumgängliche Ansatzpunkt der neuzeitlichen Philosophie. Erst viel später, außerhalb dieses entscheidenden Begründungszusammenhangs heißt es:

„Eine solche [grundlegende] Eigenschaft unserer Existenz ist das Bewußtsein. Deshalb können wir den Schluß ziehen, daß Bewußtsein auch ein Charakteristikum des Absoluten ist, denn nur weil die allumfassende Quelle bewußt ist, haben auch wir Bewußtsein. Gott ist absolutes Individuum = ungeteiltes Sein und Bewußtsein“ (64).

Das kommt jedoch nachträglich zum früher schon ausgemachten Theismus. Als neuzeitlicher Reflexionsphilosoph auf den Schultern von Descartes1, Kant, Fichte, Hegel würde ich mir nicht nur wünschen, sondern betrachte es als unabdinglich für eine seriöse philosophische Argumentation, dass das individualisierende Prinzip von Anfang an von unserer Selbsterfahrung her namhaft gemacht wird. Dieses Prinzip  ist die Selbstbezüglichkeit (Selbstreflexivität), die wir als göttlichen Funken im menschlichen, endlichen Selbstbewusstsein, also in unserer grundlegendsten, alles verbindenden Erfahrung wiederfinden. Da Armin Risi auf dieses entscheidende Prinzip nicht von Anfang an als methodisch-inhaltliches Prinzip, sondern nur wie zusätzliche Attribute Gottes (Bewusstsein, Wille und Liebe) geltend macht, habe ich meine Zweifel, ob ihm eine scharfe Unterscheidung von Monotheismus und Theismus irgendwo gelingt, wohl gemerkt, eine sachliche und denkerische, nicht allein im Hinblick auf die psychologischen Haltungen der jeweiligen Gläubigen.

Versuch einer anderen Formulierung des „Theismus“

Die Gottheit wäre, wenn wir sie als ansprechbares Wesen erfahren dürfen oder denken müssen (dies muss ich zunächst aus mehreren Gründen denkerisch in der Schwebe lassen und hypothetisch formulieren, zumal ich hier nicht den schrittweise aufbauenden Weg gehen kann): das einende Selbstbewusstsein des Universums. Nicht schlechthin dieses Universum selbst, was Risi mit Recht als Pantheismus zurückweist; sondern dessen in seine ursprüngliche wie auch resultative Einheit: als Selbstreflexion oder Selbstbezüglichkeit. In einem Bild darf man sagen, das (selbst körperlich-geistig-seelische) Universum der „unendlich“ ausgedehnten Materie und der sie besiedelnden Seelen, die teils geist-offen, d. h. des Einen Logos oder Lichtes oder Sinnes fähig sind, dieses nicht allein räumlich-zeitliche Universum bildet Leib oder Gewand der von Risi in der Sache mit Recht „individuell“ genannten, weil selbstbewussten Gottheit. In dieser nicht mehr vorstellungsmäßigen und auch nicht bloß formalen, sondern aus Selbsterfahrung und Reflexion gewonnenen Interpretation von „Individualität“ darf diese dann durchaus wieder Personalität genannt werden, jedoch in einer gänzlich entmythologisierten, von jeder figürlichen Vorstellung befreiten Form.

Das selbstreflexive Selbst-Bewusstsein, von dem all unsere Erfahrung anhebt (sofern es unsere Erfahrung ist), ist das am meisten und letztlich einzig Individuierende. Nicht die materiellen „Atome“ sind das Individuelle (wie wir im Zeitalter der Kernspaltung noch besser wissen), auch nicht die schon stärker individualisierten Organismen, die doch alle auflösbar sind, sondern allein selbstreflektierten Wesen, als die wir uns erfahren. Zugleich ist die Selbstreflexion jedoch das am meisten mit „Allem“ Verbindende: Wir alle haben den mit unserem Selbstbewusstein verbundenen Gedanken von „Allem“, was ich Sinn-Medium nenne: die reale Bedingung der Möglichkeit unserer Kommunikation miteinander wie mit der Welt. Wir sind in unserer reflexiven Individuierung zugleich Logos-Träger, um an den griechischen und auch neutestamentlichen Ausdruck für diesen Sinn zu erinnern. Ich pflege diesen Ansatz bei (Selbst-)Bewusstseinserfahrung und Handeln seit Jahrzehnten folgender maßen zu skizzieren:

Die 4 Sinn-Elemente des menschlichen Bewusstseins und Handelns in Bezug zu den drei Seinsebenen des Individuums (Abbildung: Johannes Heinrichs)

Dieser Ansatz führt zugleich, wie man sehen kann, auf begrifflich saubere Weise zu den alten, wenngleich meist nicht klar definierten Begriffe von Körper, Seele und Geist – eine Linie, die ich an dieser Stelle nicht weiter verfolgen kann.2 Ich bringe eine solche methodische Alternative zu Risis Herleitung des „Absoluten“ von einer abstrakt-metaphysischen Seinseinheit her nicht aus Widerspruchsgeist oder einem ego-behafteten Bedürfnis, sondern weil es für ein neuzeitliches westliches Denken unmöglich ist, ohne Dogmatismus von einem bloß formal gefassten, ungeteilten „Sein“ auf Bewusstsein und Selbstbewusstsein zu kommen. Genauso wenig wie dies von einem materialistischen Denken her möglich ist, in dem die Materie im ersten Ansatz (selbst-vergessen) das einzige Element ist. Wird beim Reden über Materie wie auch über „Sein“ nicht von vornherein erkenntnistheoretisch der Redende und Denkende selbst berücksichtigt, wird man nie bei Selbstbewusstsein ankommen. (Hier liegt der erkenntnistheoretische Pferdefuß, das mangels methodischer Selbstreflexion nicht Bedachte der Mehrheit „strenger“ Naturwissenschaftler.)

Der Appell an vedische und sonstige heilige Schriften anstelle von logisch korrekter Argumentation scheint mir unerlaubt, weil bloß autoritär, sobald wir das Prinzip des Denkens aus sich selbst heraus akzeptieren. Deshalb wird Armin Risi mit seinem diesbezüglichen Gedankengang wissenschaftlich-philosophisch und naturwissenschaftlich Denkende kaum überzeugen können – auch wenn er, wie ich unten umreißen werde, sehr berechtigte Einwände gegen die herrschende Evolutionstheorie hat. Inhaltliche Übereinstimmung habe ich durchaus mit vielen Weisheitsschriften, die deshalb noch längst keine wissenschaftliche Philosophie enthalten. Das Prinzip des Selbstdenkens hoch zu halten, bedeutet keineswegs, sich für echte Offenbarung zu verschließen – wohl aber für autoritäre, unbegründete Ansprüche.3 Ist dieses methodologische Prinzip der Neuzeit, das nichts mit dem vulgär-naturwissenschaftlichen Materialismus zu tun hat, nun ein Irrweg, bloß ein Abfall von der paradiesischen Höhe der vedischen Schriften oder eines frühen kosmischen Bewusstseins? Oder fehlt es unserem Autor hier selbst an Radikalität – zugunsten einer gewissen „theistischen“ Autoritätshörigkeit?

Zurück zur Ausgangsfrage

Was aber ist zunächst der Unterschied zwischen Monotheismus und Theismus? Das Absolute im theistischen Sinn ist der ewige Ursprung des sich manifestierenden Universums und umfasst alles Relative, ohne aber als das/der Ewige in der „Unendlichkeit“ des Universums aufzugehen. (Unendlichkeit wird dabei übrigens von Risi als vorstellungsmäßige Unbegrenztheit verstanden, nicht als die qualitative Unendlichkeit, die mit Ewigkeit identisch, genauer: deren zeitzugewandter Aspekt die Ewigkeit ist – ein z. B. für Hegel sehr wichtiger Unterschied im Verständnis von Unendlichkeit.) Im monotheistischen Sinn ist das Absolute, wenn man überhaupt diesen „heidnisch“-philosophischen Ausdruck gebrauchen darf, vom Relativen, von allen endlichen Wesen und von der Natur getrennt. Daraus folgt dann unweigerlich ein patriachisches Gottesbild – im schlechten Sinn nach dem Bilde des Menschen, wie der berechtigte Vorwurf seit Ludwig Feuerbach lautet.

Das gekennzeichnete theistische Verständnis der Gottheit schließt dagegen die pantheistische Komponente der Einheit von Gott und Natur ein – ohne einfachhin Pantheismus zu sein. Die Gottheit, die sich in die Natur entäußert, ist doch – als selbstreflektierte – zugleich über der Natur, ähnlich wie unser Selbstbewusstsein nicht im Körper ist (allenfalls bisher von den Hirnforschern nicht entdeckte Gehirnfunktionen zur materiellen Grundlage hat). Ob diese Aussagen völlig in Einklang mit dem Stufenschema bei Risi, das von Materialismus über Holismus (Pantheismus, Deismus, Dualismus (Monotheismus, Gnosis) zum Monismus atheistischer oder  theistischer Art und zum theistischen Gottesbewusstsein führt (127), zu bringen sind, sei dahin gestellt. Meines Erachtens ist ein Seins-Objektivismus, sei es mittelalterlicher, sei es der tiefergehenden vedischen Art, ohne den „modernen“ Selbstbezüglichkeitsgedanken nicht in der Lage, hierin ausreichende Klarheit zu schaffen.

Ist die Existenz Gottes dem reinen Denken erschwinglich?

Es muss hier die Frage offen bleiben, ob die methodisch-philosophische Gotteserkenntnis über eine hypothetische Erkenntnis hinausführt, solange nicht die geschichtliche Erfahrung zu Hilfe genommen wird: mystische Offenbarungs-Erfahrung und hellsichtige Erkenntnis, welche jedoch nicht als autoritär für alle verbindlich erklärte „Glaubensgrundlage“ westlicher oder östlicher Prägung das menschlich-individuelle (!) Denken und Erleben überlagern darf. Um der auch von Risi hoch geschätzten Individualität willen (wenn wir sie richtig als solche der Selbsterkenntnis und Freiheit verstehen) sollte jede Abwertung des Denkens wie die alte westliche Stockwerk-Theorie von natürlicher Vernunft und „übernatürlicher“ Offenbarung hinter uns liegen – und die vielerorts beliebte neu-esoterische Berufung auf mystische oder Herzens-Quellen, die uns das Denken ersparen sollen, wäre nur eine unglaubwürdige Wiederholung jener Spaltung. Eine solche Esoterik wird mit Recht als unglaubwürdig abgelehnt.

Die geschichtliche Entwicklung des Bewusstseins der individuellen Freiheit müsste ferner auch von einem Kenner und Gläubigen der altehrwürdigen vedischen Literatur wie Armin Risi voll berücksichtigt werden. Mit anderen Worten, zu einer wirklichen Begegnung von östlichem und westlichem Denken gehört auch das inhaltliche wie methodische Ernstnehmen der neuzeitlichen westlichen Philosophie. Es ist ohnehin ein Ammenmärchen und ein Schlag ins Gesicht der besten, freilich heute verleugneten Tradition der europäischen Philosophie, dass diese im Wesentlichen materialistisch sei, im Unterschied zur östlichen. Diese Behauptung findet sich z. B. bei F. Capra (der eine Art Kurzschluss von westlicher Naturwissenschaft und östlicher Mystik unter Umgehung der östlichen wie westlichen Philosophie befürwortet), im anstehenden Buch Risis zum Glück nicht.

Links- und Rechtshegelianismus in Parallele zu atheistischer und theistischer Esoterik

In der abendländischen Geistesgeschichte gab es bei Hegel („Vorlesungen über die Philosophie der Religion“) eine wirkungsmächtige Zweideutigkeit in der Deutung der Personalität der Gottheit:

  • Kommt die Gottheit erst im Menschen zu ihrem Selbstbewusstsein?
  • Oder ist dieses göttliche Selbstbewusstsein von Anfang an vorauszusetzen?

Die erste Sichtweise ist die „linkshegelianische“, die zum Atheismus von Feuerbach und Marx führte, die zweite die rechtshegelianische, die als orthodox christlich betrachtet, vielmehr vereinnahmt wurde. Die Zweideutigkeit und die entsprechende Gabelung kam hauptsächlich zustande, weil man Hegels Denken nach seinem frühen Tod wieder grob-monotheistisch umdeutete. In Wahrheit handelt es sich hier um eine zwar bedeutsame, doch feine Nuance: Ob man der Gottheit „an sich“ schon volles Selbstbezüglichkeit zusprechen darf oder erst in ihrer Entfaltung in Kosmos und menschlicher Geschichte. Denn die zeitliche Entfaltung ist ohnehin „aufgehoben“ in ein überzeitliches, ewiges Geschehen: Die Zeit gehört der Ewigkeit an wie das raumzeitliche Universum der Gottheit.

Eine analoge Spaltung konstatiert Risi, wenn er von einer Esoterik (oder Theosophie) atheistischer Prägung und theistischer Prägung spricht. Die Richtung der Blavatsky-Theosophie ordnet er (wahrscheinlich mit manchen Strömungen des Buddhismus) der „atheistischen Esoterik“ zu (151). Ich habe starke Vorbehalte gegen diese Zuordnung als zu grob angesichts der angesprochenen subtilen Unterschiede, ähnlich wie sie für den tiefer Denkenden zwischen Links- und Rechtshegelianismus bestanden. Zumal sich die späteren Strömungen der Theosophie (Alice Bailey, Benjamin Creme) in voller Kontinuität zu Blavatsky und dabei eindeutig theistisch verstehen. Freilich spielten für Blavatsky die hochentwickelten aufgestiegenen Meister, in deren irdischer Daseinsform die Gottheit im Menschen sichtbar wird (wie in Jesus) in der Tat eine größere Rolle als die Eine, tiefer verborgene, wenn auch allgegenwärtige Gottheit. (Mit dieser Einen Gottheit direkt in bewussten und antwortenden Kontakt zu treten, erfordert viel mehr an Entwicklung von Seiten des Menschen, als es naive monotheistische oder auch esoterische Gemüter es sich träumen lassen.)

Sind die abrahamitischen Religionen im Grunde „theistisch“?

Am Schluss seines reichhaltigen Gedankengangs versucht Risi eine Ehrenrettung der drei abrahamitischen Religionen im theistischen statt monotheistischen Sinne: im Sinne des „absoluten, einen“ statt des „einzigen“ Gottes. Mich überzeugt dieser Versuch am wenigsten. Selbst wenn es wahr sein mag, dass die großen Gründergestalten dieser abrahamitischen Religionen vom Absoluten und nicht mehr von einem höchsten Stammesgott inspiriert waren (evident wird mir das freilich erst bei Jesus), so war doch die Institutionalisierung ihrer Grundintuitionen schon bald nach ihren Tod jedes Mal monotheistisch im Sinne von ausschließlich: im Judentum die bis heute fortwirkende Bindung Gottes an Stamm und Volk, also die Vermischung von Ethnischem und Religiösem, die in der pluralistischen Gesellschaft zum regelrechten Doppelspiel wurde, ebenso die Bindung an eine Fülle von Gesetzen; im Christentum vor allem die Engführung über den Einen, mit allen anderen Meistern und Avataren der Weltgeschichte angeblich ganz unvergleichlichen „Sohn Gottes“, die Lehre von der „Erlösung“ durch ein geschichtliches Ereignis, gar nicht zu reden von zahlreichen späteren Dogmen wie der Schöpfung aus Nichts (im Johannesevangelium ist es noch die Schöpfung aus dem Logos!) oder die Verabsolutierung eines monarchischen Lehramtes oder – besonders im Protestantismus – der Bibel; im Islam ein ähnliches Schwören auf ein unfehlbares Buch und die heute viel diskutierten Fragen um Scharia, heiligen Krieg und vieles mehr.
Wenn der Theismus in dem von Risi gebrauchten Sinn die umfassende, uralte Wahrheit in Sachen Religion darstellt, kann es gar nicht anders sein, als dass alle religiösen „Sprachen“ der Welt (so darf man sie vergleichsweise betrachten) ihre Wahrheit aus ihm bezogen und beziehen. Wenn tatsächlich die monotheistischen Engführungen eine größere Nähe zur theistischen Wahrheit beinhalten sollten, dann allenfalls aufgrund der Ahnung, dass hinter dem einzigen Gott-Patriarchen das Eine göttliche Selbstbewusstsein des Universums steht. Risi selbst weiß selbst besser, wie diese Grundintuition auch in den indischen Religionen tragend war und teils auf viel weniger patriachalische Weise weiter gegeben wurde. Auch das kosmische Bewusstsein der Indianer, das mit der Verehrung des „Großen Geistes“ verbunden war, ist mindestens so nahe an theistischer Wahrheit wie jene Dogmatisierungen.

Dass also auch in den monotheistischen Religionen noch Wahrheit zu finden ist, bedeutet nicht, dass ihre Unwahrheiten aus alter Gewohnheit beschönigt werden dürfen. Wir sollten den Mut haben, im Namen des Theismus ähnlich konsequent Nein zu sagen zu den vielen Abstrusitäten der abrahamitischen Monotheismen. Dies auch in Solidarität mit den vielen bekümmerten „Atheisten“, die weitgehend eben wegen dieser Abstrusitäten in ihre extreme und triste Ecke meinen flüchten zu müssen. Der Atheismus ist doch weitgehend eine Reaktion auf die monotheistischen Irrtümer und Vergehen! Der „radikale“ Mittelweg darf nach dem eigenen Selbstverständnis Risis nicht in ängstliches, opportunismus-verdächtiges Paktieren mit den in mehrfachem Sinne korrupten, staats-kirchlichen Macht- und Mehrheitsverhältnissen münden. Von der anscheinenden theoretischen Radikalität des Anfangs bleibt am Ende und in praktischer Hinsicht wenig übrig! Meines Erachtens hat es damit zu tun, dass schon der theoretische Ansatz nicht klar und scharf genug war – und dass auch Risi methodisch durchaus autoritäre Elemente zulässt, wenn auch aus der vedischen Tradition. (Diese dürfen nur als Denkhypothesen und Erfahrungszeugnisse eine Rolle spielen.) Zu diesen Elementen gehört die Deutung der gesamten Neuzeit mit ihren durchaus vorhandenen Errungenschaften wie die des modernen Wissenschaftlichkeit-Ethos (zu dem das materialistische Vorurteil keineswegs zu zählen ist) und die Entwicklung der neuzeitlichen Technik als Kali-Yuga-Periode. Soll diese  nicht vergleichbar sein mit dem Maßstab „christliches Mittelalter“, den der Katholizismus bis weit ins 20. Jahrhundert hinein an die ganze Neuzeitentwicklung anlegte, sind hier differenzierende und im gedanklichen Sinn radikalere Maßstäbe erforderlich! Einer davon ist sicher die besagte Einbeziehung des pantheistischen Momentes in den Theismus.

Involution statt der herrschenden Evolutionstheorie

In einem Gebiet ist Risi konsequenter und kämpferischer als in dieser versuchten Rehabilitierung der Monotheismen: in der Ablehnung der herrschenden Evolutionstheorie. Hier entwirft er eine Sicht, die keinen kompromisslerischen Mittelweg zwischen materialistischer Evolutionstheorie und fundamentalistischem Kreationismus darstellt. Dass „Schöpfung“ (wie immer man sie nun genauer versteht) und materielle Evolution keine Gegensätze sind, das wurde in den sechziger Jahren schon ausdiskutiert (besonders anlässlich des Werkes von Pierre Teilhard de Chardin). Dass aber die materialistische Evolutionstheorie nicht erklärt, was sie zu erklären vorgibt, das ist heute selten zu hören:

„Die genetische Ähnlichkeit [zwischen den Lebewesen sowie Menschen und Tier] läßt sich auf unterschiedliche Weise interpretieren, die materialistische ist nicht die einzige. Eine evolutionäre Abstammung würde eine lineare Veränderung des Gencodes durch Zufall bedingen, wobei jede Zwischenstufe eine vollständig lebensfähige Population hervorbringen müßte – was unmöglich ist (214,4; Hervorhebung durch den Autor).

„Die Ähnlichkeiten auf anatomischer und genetischer Ebene sind nicht Ähnlichkeiten aufgrund einer evolutionären Abstammung, sondern Ähnlichkeiten aufgrund eines gemeinsamen Hintergrundes (215).

Soweit entspricht dies meines Wissens dem Verständnis des stufenartigen Zusammenhangs der Lebewesen bei Goethe, Schelling, Hegel usw., während Darwin dann eine lineare Kausalität durch Zufall und Selektion postulierte (nicht aber wirklich nachwies). Risi geht nun aber mit der alten vedischen Sicht noch weiter und spricht von Involution:

„Involution bedeutet: interdimensionale, kosmisch-herabsteigende Evolution, gesteuert und vollzogen durch geistige Impulse, die die Materie beseelen und formen“ (232).

„Wie entstand diese gestaffelte Fülle von perfekt geschaffenen Lebewesen? Die Evolutionstheorie sagt: durch eine Serie von zufälligen Genmutationen. Die spirituell-holistische Involutionstheorie sagt: durch das Wirken höherer Geistwesen, die durch ihr Mitschöpfertum die jeweiligen pflanzlichen und tierischen Lebensformen entstehen ließen“ (235).

„Die Menschen sind nichtevolvierte Tiere, sondern ‚involvierte‘ Lichtwesen! Der menschliche Körper entstand, indem höherdimensionale Wesen (im Sanskrit: devas, im Hebräischen elohim genannt, ihren Lichtkörper durch Geisteskraft eine irdisch-organische Gestalt annehmen ließen“ (234).

Ausblick

Auch hier dürfte Armin Risi, wie in den meisten seiner Aussagen, inhaltlich richtig liegen. Die Frage lautet aber erneut: Wie lässt sich das wissenschaftlich-methodisch nicht nur kritisch, sondern auch positiv vermitteln? Die Berufung auf vedische Seher und „Spurenelemente“ in der hebräischen Bibel ist bemerkenswert, genügt jedoch nicht, wenn wir Wert darauf legen, mit der westlichen Wissenschaft und damit mit dem Bewusstsein des überwiegenden Teils der heutigen Menschheit ins Gespräch zu treten. In der Ablehnung des wissenschaftlichen Materialismus gehe ich mit Risi völlig einig. Doch diese Ablehnung muss methodisch-erkenntnistheoretisch geleitet sein, und betrifft schon den ersten erkenntnistheoretischen Ansatz – und würde auch meinen Kommentar zum hilfreichen „Glossar der philosophischen Begriffe“ am Schluss des Buches betreffen. Selbst unter theistisch Denkenden gibt es also noch vieles zu klären, u. a. was Erkenntnismethoden und Geschichtsdeutung angeht. Womöglich schafft erst das Ende des dunklen Kali-Yuga-Zeitalters, von dem Risi wohl zu Recht spricht, die nötigen kollektiven Bewusstseinsvoraussetzungen zum Abbau der Vorurteile auf allen Seiten (ohne in solche „Vorurteilsfreiheit“ zu fallen, die nur Erkenntnismüdigkeit oder Wahrheitsrelativismus ist). Vielleicht vermögen wir dieses Ende durch unsere geistige Redlichkeit und unbestochenen Wahrheitswillen als Individuen zu beschleunigen – obwohl wir dazu derzeit von keiner unserer großen Institutionen angeleitet werden.

ANMERKUNGEN:

  1. Zum bis heute zu Unrecht verlästerten und von den konfessionalistischen Fanatikern umgebrachten Descartes jetzt erneut und sehr seriös: Theodor Ebert: Der rätselhafte Tod des René Descartes. Alibri Verlag, Aschaffenburg 2009
  2. Vgl. dazu Johannes Heinrichs: Öko-Logik. Steno Verlag, München 2007 ( 2. Aufl.)
  3. Ich darf hier zur Ergänzung auf meine beiden Aufsätze „Glaube – Wissenschaft – Vernunft“ und „Spiritualität und Wissenschaft“ in den Heften 4 und 6/2009 in „Lebens[t]räume“ hinweisen (einsehbar über www.johannesheinrichs.de/bioliographie).

 

Titel: Der radikale Mittelweg
Untertitel: Überwindung von Atheismus und Monotheismus
Autor: Armin Risi
Jahr: 2009
Verlag: Kopp Verlag
Genre: Sachbuch
Aufmachung: 425 Seiten, gebunden

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