Von JUTTA GRUBER
Kaum eine Woche vergeht, an dem meine Versuche, in der Welt zurechtzukommen, nicht mit gen Himmel verdrehten Augen meiner halbwüchsigen Tochter kommentiert werden. Gerade war wieder einmal so ein Moment: Ich lag, wohl etwas verkrampft, auf meinem Bett und wartete geduldig auf den muskelrelaxierenden Effekt meiner jüngsten Neuerwerbung, einer für den Rückenbereich zugeschnittenen elektrischen Heizdecke. Geschulten Blickes erkannte Elisabeth mein Problem, noch bevor ich überhaupt wusste, dass ich eins hatte, mal abgesehen von meinem situationsbedingt dämlichen Äußeren. Begleitet von einem leisen, fast nur zu sich selbst gesprochenen „Ach, Mama ...“ drückte sie den Netzschalter der Dreiersteckdose, in die ich die Heizdecke eingesteckt hatte. Nun stieg nicht nur die lang ersehnte Wärme nebst großer Dankbarkeit an mein lebenstüchtiges Kind in mir auf, sondern auch die Vermutung, dass ich wohl wirklich zur Gruppe der Alltagsidioten gehöre.
Während mancherleuts Lebensbeichte – wie z. B. die Geständnisse unserer radrennfahrenden Dopingsünder vergangenen Jahres oder der bekennenden Tabubrecherin Charlotte Roche, der nicht nur ihre Mitesser gut schmecken – recht spektakulär daherkommen, bleibt es vermutlich ohne größere Folgen, wenn ich mich hier oute: Ich habe Angst vor der Unberechenbarkeit des Alltags. Und sie wird ja nahezu täglich geschürt, diese Angst: von überfreundlichen Beratern am Servicetelefon, patenten Damen am Postschalter oder souveränen Verkäufern im Media Markt. Allzu oft hatte ich mich kompetent beraten gefühlt und saß dann doch mit den falschen Druckerpatronen zu Hause. Vielleicht bin ich ja auch nicht die Einzige, die sich blöd anstellt, die anderen tarnen sich nur besser.
"Die Erwartung des Unerwarteten ist eine der wesentlichen Voraussetzungen für Reisen in die Anderswelt"
Im Grunde möchte ich doch nur, dass meine kleine Welt zumindest halbwegs funktioniert. Ist es wirklich so weltfremd, zu erwarten, dass frisch erworbene Milch nicht sauer ist, dass das Handy auch funktioniert, wenn ich es von der Reparatur zurückerhalte, mein Auto losfährt, wenn ich Gas gebe, der Auftrag ausgeführt wird, wenn ich einen neuen Telefonanschluss bestelle oder ich wenigstens mit meinem Bekannten verbunden werde, sobald ich dessen Nummer wähle? Zumindest für die Nerven bedeutet es Schonung, hier mit ja zu antworten.
Um nicht den Glauben an die ganze Welt zu verlieren, gab ich dann doch lieber meinen Glauben an die stete Funktionstüchtigkeit derselben auf. Und das verdanke ich einem Vortrag der Ethnologin Claudia Müller-Ebeling. „Schamanismus ist die Erwartung des Unerwarteten“, waren ihre Worte. „Und die Erwartung des Unerwarteten ist eine der wesentlichen Voraussetzungen für Reisen in die Anderswelt.“ Wochenlang ging ich mit dieser Aussage schwanger, bis ich schließlich verstand: Was für den Aufenthalt im Jenseits gut ist, könnte auch die Rettung vor dem Untergang im ganz normalen Leben sein!
Seit ich geläutert durch die Anderswelt, sprich den Alltag reise, scheitere ich zwar immer noch regelmäßig an der Bedienung des Ticketschalters der Berliner Verkehrsbetriebe. Ich verlaufe mich auch weiterhin in großen Einkaufszentren und Parkhäusern. Ich frage inzwischen sogar noch an der Kasse nach, ob die Patronen auch wirklich die richtigen sind. Doch neuerdings bin ich dankbar für jede freundliche Antwort, egal wie sie auch ausfallen mag. Und ich liebe es inzwischen, lieber eine Stunde zu früh am Bahngleis herumzustehen, als mich von einem unerwarteten Ereignis in Zeitverzug, Hektik oder gar Verunsicherung bringen zu lassen.
Jetzt weiß ich: Wir leben nun mal nicht in einer mechanistisch-deterministischen Welt – als Philosophin war mir das zwar schon lange klar, aufs Alltagserleben hatte ich es aber nie übertragen. Meine Angst vor dem Unerwarteten verwandelt sich mehr und mehr in maßloses Staunen über die Welt und was man da so alles nahezu Unglaubliches erleben kann. Die Kulleraugen meiner Tochter nehme ich dafür gern in Kauf, auch die sprechenden Blicke der Verkäufer („Ja, ist die denn blöd?“), sogar das Bedauern darüber, dass mein Reiseproviant meist schon verspeist ist, bevor ich überhaupt im Zug sitze. Die Maxime der Schamanen bedeutet schließlich auch, dass ich selbst andere mit Unerwartetem überraschen darf. Und außerdem: Ist es wirklich so wichtig, was andere über mich denken?