Von UWE HABRICHT
Der (post-)modernen Gesellschaft sind die Visionen ausgegangen. Sie steht auf dem Trümmerhaufen der christlichen Kirche und der materialistischen Überspezialisierungsideologie. Den letzten Ausweg sieht sie in der Propagierung von Grenzenlosigkeit und Vielfalt. Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass sich die globale Macht immer stärker zentralisiert – bei gleichzeitiger allerorten präsenter Demokratiebeschwörung. Fortschritt wird mit „Wachstum“ verwechselt. „Frei“ zu sein scheint nur derjenige, der Arbeit hat („Arbeit macht frei“?), und aufgeklärt, wer sich permanent mit dem Holocaust beschäftigt, „Pauschalverantwortung“ trägt und sich ständig Sorgen macht (z. B. Krebs-, Altersvorsorge). Wir leben in einer Welt, in der wir allzeit „auf der Hut“ sein müssen. Die Medien hämmern uns Tag für Tag ins Hirn, wogegen wir alles angehen müssen, wovor wir Angst haben sollen, von wo Gefahr ausgeht: Kriminalität, Arbeitslosigkeit, Armut, Krankheit, Fundamentalismus usw. Die freiheitliche Welt ist gefangen in ihren Abwehrmechanismen, in ihrer Fixierung auf die „Verteidigung ihrer Werte“. Sie mutet an wie ein Organismus, der vor lauter Angst in Zwanghaftigkeit erstarrt.
Der Zustand unserer so genannten „Zivilisation“ ist Besorgnis erregend: Sie ist psychisch und physisch krank. Die Ursachen dieser Zustände, in denen wir uns heute befinden, wurden von vielen Denkern analysiert. Der Psychologe Erich Fromm (1900–1980) ragt mit seiner Analyse des „Repressiven Kapitalis-mus“ heraus. Auch die Psychoanalytiker Sigmund Freud (1856–1939) und Wilhelm Reich (1897–1957, vgl. dazu auch die zeitgeist-Ausgaben 1-2002, 2-2002, 3-2002 und 1-2003) führten eine ganzheitliche Analyse der Funktionsweise kapitalistischer Herrschaftsstrukturen durch. Der Konsens: Der Mensch von heute hat nach ganz bestimmten Systemerfordernissen zu funktionieren. Die Ächtung des „Nichtfunktionierens“ ist vielfältig, läuft aber meistens moralisch ab. Gut und Böse spiegeln die kirchliche Tradition wider. Die Guten machen – ganz legitim – Jagd auf die Bösen: auf „Schwarzarbeiter“, „Krankfeierer“, „Sozialschmarotzer“, auf den „bösen Krebsvirus“. Diese Polarisierung zeigt sich in unterschiedlichster Gestalt. Puritanismus, Fanatismus oder Klassenkampf gehen letztlich auf die jahrhundertealte christlich-kirchliche Bekehrungsideologie zurück, die seit jeher mehr Leid als Segen brachte und den Menschen, anstatt ihn zu „befreien“, immer tiefer in die Bevormundung drängte.
Angst und Sicherheit sind komplementäre Aspekte von Kontrolle. Wer Angst hat, lässt sich (ver-)führen; wer Angst macht, kann kontrollieren. Auffälligerweise bestimmen unsere Gesellschaft heute überwiegend Themen, die Angst bereiten. Kein Zufall, denn das Produkt der Angst, die Angstabwehr, ist für die Erhaltung eines auf Ausbeutung und Profitmaximierung basierenden Systems ausschlaggebend. Menschen ohne Angst vor Krankheit, Tod, Verlust und Imageschädigung könnten nicht Träger dieses Systems sein, weil der „Abwehrmarkt“ zusammenbrechen würde. Angst wird zu einem Erfordernis der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Gleichzeitig wird das System von einer Gesinnung getragen, in der Angsterzeugung und Abwehrangebote im Gleichgewicht gehalten werden.
Abgewehrt werden dabei nicht nur Todesängste, sondern alle eigenen „negativen“ Gefühle und Empfindungen wie Aggression, Unlust, Schmerzen etc. Hierfür bietet der Markt die „richtigen Mittel“. Eine künstliche „problemfreie Welt“ hat jedoch ihren Preis. Denn die „abgespaltenen Emotionen“ kehren in pervertierter Form zu uns zurück – als extremste Ausprägung in Form von Terrorismus. Die (puritanische) Gut-Böse-Ideologie legitimiert zentralistische Instanzen folglich zur Schaffung eines Machtmonopols, um die Bürger mit Gewalt vor Gewalt zu schützen. Ein Teufelskreis entsteht, der zugleich ein effektiver Kontrollmechanismus der auf Abwehr programmierten Welt ist.
Interessanterweise bewirkt die Angstabwehr und damit verbundene Verdrängung des Todes erst recht eine Fixierung auf das Unlebendige. In ihr ist der aberwitzige Versuch enthalten, die psychische Kontrolle über die (Todes-)Angst doch noch zu erlangen. Auf diese Weise werden Beispiele nekrophiler Perversionen in jüngster Zeit durchschaubarer: Kunst, die Leichen(-teile) in den Mittelpunkt rückt, wird salonfähig. Die Hinwendung von Politik und Versorgungssystemen zum Zerstörerischen ist augenfällig. „Der Kampf gegen Symptome“ spiegelt die Fixierung auf das Symptom (anstatt auf die Ursache) wider. Dies ist auf allen Ebenen zu beobachten. Der „Kampf gegen …“ ist mehr als eine sprachliche Formel, er ist Ausdruck makroneurotischer Ausrichtung auf Beängstigendes und reduziert jede Aktion auf die Abwehr: Kampf gegen Gewalt, Kampf gegen Terror, Kampf gegen Drogen, Kampf gegen Armut, Kampf gegen AIDS ... (...)
Den kompletten Beitrag lesen Sie in zeitgeist-Ausgabe 2-2004.
LITERATUR: