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Gesucht: „Schlacken“

Eine Odyssee durch Naturheilkunde, Medizin und Wissenschaft

Von THOMAS RÖTTCHER

Schlacken, so erfahren wir es aus einschlägigen Medien und natürlich aus der Werbung, sind schlecht. In unser aller Körper versteckt, seien sie Ursache vieler Leiden und müssten daher „entfernt“ werden, z. B. durch Fasten oder „Entschlackungsmittel“. Inzwischen mehren sich jedoch auch skeptische Stimmen, welche das Ganze für einen gut inszenierten Marketinggag halten, mit dem sich viel Geld verdienen lässt. Wir wollten es genauer wissen, tauchten ein in den Schlackensumpf und fragten nach: Wer oder was sind eigentlich diese ominösen Schlacken? Wo und wie entstehen sie? Und wie gefährlich sind sie wirklich? Damit traten wir eine Recherchelawine los. Hier das verblüffende Ergebnis.

Artikelauszug: vollständiger Text in zeitgeist-Printausgabe 1-2007

Gibt man in einer namhaften Internetsuchmaschine den Begriff „Entschlackung“ ein, kommt man aus dem Staunen nicht mehr raus: Über eine halbe Million Verweise auf Webseiten rund um dieses Thema – eine ungeheure Zahl, die belegt, dass der Wellness- und Gesundheitstrend auch im Netz deutliche Spuren hinterlassen hat. Da heißt es z. B., falsche Ernährung und nachlässiges Körperentgiften führe dazu, dass der Mensch 5 kg an Schlacken mit sich herumträgt. Einige behaupten sogar, dass der Körper mancher Menschen zu 50 % aus Schlacken besteht! Es wird geraten, mindestens zweimal im Jahr eine (nicht ganz billige ...) Entschlackungskur durchzuführen, um gesund und leistungsfähig zu bleiben. Angeboten werden Fasten, Reduktionsdiäten, Entsäuern, Ausleiten, Ayurvedaanwendungen, Schröpfen, Trink- und Schwitzkuren, daneben allerlei Präparate wie Blutreinigungstees, Basenpulver, Abführmittel, Mineralstoffe usw. usf. – der Markt erscheint gewaltig. (…)

Viele Menschen fühlen sich zu dick oder innerlich unrein – Ergebnis ausgeklügelten Marketings, um massenweise Entschlackungsprodukte zu vermarkten?

Im Internet wie in Fachpublikationen werden eine Vielzahl von Substanzen unter dem Begriff „Schlacken“ subsumiert. Das reicht von Kalk in den Gefäßen über Freie Radikale bis hin zu Schwermetallen. (…) Susanne Klaus vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung (DIfE) in Potsdam bringt es (…) auf den Punkt: Solange es keine einheitliche Definition für Schlacken im menschlichen Körper gebe, sei auch keine differenzierte wissenschaftliche Diskussion möglich. Die Zusammenstellung im Kasten unten dokumentiert, dass die unklare Sachlage Tür und Tor öffnet für beliebige Interpretation und Spekulation. Man könnte meinen, sämtliche umhergeisternden Schadstoffe und giftigen Verbindungen wurden zu „Schlacken“ umdeklariert. (…) Gewiefte Geschäftsleute („Wenn Sie nicht entschlacken, werden Sie krank“) hantieren (…) lieber mit „gröberen“ Schlacken, die für den Laien greifbarer sind. Wer will schon „Fett ums Herz“ oder „Kotsteine“ im Körper behalten? (…)

Das Thema Fasten wird zumeist an erster Stelle genannt, wenn es um Entschlackung geht. Die meisten Fastenärzte sind der Auffassung, dass sich auf diesem Weg der Harnsäurepool im Menschen entlasten lässt, was allerdings noch durch keine Studie bestätigt werden konnte – sicher einer der Gründe, warum das Fasten immer wieder heftiger Kritik ausgesetzt ist. Dass es dennoch so beliebt ist, erklärt sich Christoph Drösser, Chefredakteur des ZEIT-Wissens-Magazins, unter anderem dadurch, „dass der aufgrund des Nahrungsentzugs in Panik geratene Körper verstärkt Endorphine ausschüttet, die durchaus berauschend wirken können“. Unter den Kritikern ganz vorne dabei ist Sven-David Müller-Nothmann, Diätexperte und Buchautor, der sich selbst als Entlarver der „Lügen der Fastenmafia“ sieht. Es werde z. B. verschwiegen, dass der Körper beim Fasten insbesondere Proteine aus den Muskeln abbaut. Sei das Herz betroffen, könne das sogar tödlich enden. Der Muskelabbau führe außerdem zum Jojo-Effekt und zu Cellulite: „Wer seine Gesundheit grundlos gefährden, immer mehr zunehmen und immer schwächeres Gewebe haben möchte, sollte fasten“, schreibt er zynisch auf seiner Homepage (www.svendavidmueller.de). Dort erfährt man auch, dass seine Bemühungen um Ernährungsaufklärung 2005 mit dem Bundesverdienstkreuz gewürdigt wurden. In einem Beitrag auf www.gesundheit.com dagegen wird Müller, damals noch Sprecher des Diät-Instituts Aachen, mangelnde Objektivität vorgeworfen, da er immer wieder die Werbetrommel für Nahrungsergänzungspräparate bestimmter Hersteller rührte.

Fasten ist nicht gleich Fasten, betont Andreas Buchinger, ärztlicher Leiter an der Klinik Dr. Otto Buchinger in Bad Pyrmont. Heilfasten sei keine Nulldiät, wie viele meinen, sondern eine niederkalorische Trinkdiät. Im Gegensatz zu religiös motiviertem Fasten werden dem Patienten beim Heilfasten Obstsäfte, Honig und Gemüsebrühe (ca. 250 kcal pro Tag) zugeführt. Buchinger erklärt den Wirkmechanismus des Heilfastens vor allem mit dem System der Grundregulation nach Alfred Pischinger, die Trias „Kapillare – Bindegewebe – Zelle“, welche als Einheit das Lebensprinzip des Organismus bilde und ca. 70 % des Körpervolumens ausmache. Unsere moderne Lebensweise mit ihrer qualitativ schlechten Ernährung, Bewegungsmangel, negativem Stress, Rauchen etc. führe zu einer Anhäufung aggressiver saurer Stoffwechselprodukte im Bindegewebe und störe dessen lebenserhaltende Funktion, wodurch der Grundstein für Krankheiten gelegt würde. Genau da setze Heilfasten an, indem es „entsäuert“ und die normale Regulation wiederherstellt. Neue Untersuchungen und elektronenmikroskopische Aufnahmen wiesen außerdem darauf hin, dass sich im Bindegewebe ein Eiweißspeicher befindet, welcher sich bei Über- und Fehlernährung anhäufe. Volker Schmiedel, Chefarzt der Inneren Abteilung an der Kasseler Habichtswald-Klinik, verweist in einer Stellungnahme auf der Klinikhomepage darauf, dass beim Heilfasten immer zuerst die am wenigsten gebrauchten Stoffe abgebaut und in Energie verwandelt werden. Komme es also zum Abbau überschüssigen Eiweißes aus dem Bindegewebe, dann sei das nicht nur unschädlich, sondern sogar hilfreich, da sich dadurch die Transitstrecke zwischen Blutgefäß und Zelle verringere, sprich die Ver- und Entsorgung der Zellen verbessere. (…)

Johannes G. Wechsler, Professor und Chefarzt der Abteilung Innere Medizin des Krankenhauses Barmherzige Brüder München, dreht den Spieß um. In einem auf 3Sat ausgestrahlten Bericht in der Wissenschaftssendung „Nano“ stellt er heraus, dass beim Heilfasten Ursache und Wirkung verwechselt werde: „Das Heilfasten entzieht dem Körper seine letzten Reserven, und er beginnt, eigenes Gewebe zu verbrennen. Dabei entstehen die Säuren, die eigentlich durch das Entschlacken ausgeschieden werden sollen.“ (…)

Lesen Sie außerdem in diesem Beitrag, wie Experten über das umstrittene Thema Übersäuerung denken, wer insgeheim als Erfinder der „Stoffwechselschlacken“ gilt, wie Entgiftungsmaßnahmen (z. B. mittels Ayurveda) einzuordnen sind und warum die pauschale Überzeugung, Schlacken seien Bösewichte, neuesten Erkenntnissen mehr und mehr infrage gestellt ist.


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