Minimalismus – der neue Superlativ?

Von MARTIN HOEMBERG

Schneller – weiter – höher: Wir kennen das Prinzip aus dem Hochleistungsport. Ergänzt mit „gigantischer“ und „rasanter“ beschreibt es Mainstream und Motto unserer technisierten, globalisierten Welt. Zusammen ergeben die Komparative sozusagen eine Maxime für Maximierung. Aber: Immer, wenn etwas monopolartigen, übermächtigen Charakter annimmt, ist auch der Alternativtrend nicht weit …

Große Containerschiffe gelten als eine Art Symbol für Globalisierung. Alles, was mit ihnen zusammenhängt, folgt den Regeln des Wachstums: Der Standardcontainer, wie wir ihn seit Jahren kennen, hat die Maßeinheit TEU. Die Abkürzung steht für Twenty Foot Equivalent Unit; exakt misst der Container 6,1 mal 2,60 mal 2,44 m. Die größten Schiffe fassen derzeit 13.500 TEU. Die Weltwirtschaft braucht jedoch mehr Container.

So passiert zurzeit zweierlei: Erstens werden größere Carrier für bis zu 20.000 TEU konzipiert, zweitens wurde eine neue Maßeinheit geschaffen: FEU verdoppelt Twenty auf Fourty Foot. Für den maritimen Warenverkehr mit Deutschland entsteht ein Problem: Künftige Containerschiffe finden in den meisten Häfen und Kanälen derzeit nicht genügend Tiefgang. Folglich müssen neue Tiefwasserhäfen gebaut werden.

Schauplatzwechsel. Eine Technikcrew von rund 100 Männern und Frauen war verantwortlich für das Gelingen des „Eurovision Song Contest“ in Helsinki 2007. Die Regieräume des Events hätten Wohnraum für zehn dreiköpfige Familien geboten, das eingesetzte Licht-, Ton- und Bühnenbau-Equipment entsprach ca. einem Dutzend TEU. Der nächste Song Contest in Belgrad wird (… grüßt mir das Murmeltier …) noch größer, bunter, opulenter sein – und dann vielleicht schon ein Dutzend FEU füllen.

Nimmt ein Teil der Menschen die Umwelt bald überwiegend auf Displays und Schirmen war?

Die Auflistung von Lichttechnik, Tontechnik, Pyrotechnik und Special Effects bei populären Events – inklusive dem Besuch von Papst Benedikt XVI. 2005 – füllt Seiten in Fachmagazinen. Verleiht eine Materialschlacht dem Content Substanz? Oder ist der Content nur dazu da, einen zuverlässig kalkulierbaren Input für die imposante Präsentations- und Verpackungsmaschinerie zu liefern? Konsequent gehen einige Eventdesigner von Machbarkeiten aus, von Effekten, die sich aus dem jeweils neuesten Stand der Medientechnik ergeben und kompilieren Inhalte zum Material und zu den Effekten.

Theater- und Operninszenierungen verlassen sich gern auf das Rezept „Talkabout um jeden Preis“. Geschmack kennt keine Grenzen; effektiv ist der Skandal. „Wie kriegen wir das noch schriller?“ „Wie wird eine Sensation draus?“ „Wir müssen das Überschreiten von Grenzen ignorieren.“ Und, schulterzuckend: „Ist heute leider so. Sonst können wir’s gleich bleiben lassen …“

Um welchen Content geht es dabei eigentlich? Welche Effekte verkleiden – oder verbrämen – ihn möglicherweise? Schöne Imaginationsübung: Den eindrucksvollsten Aufmarsch, die imposanteste Massierung von dekorierten Würdenträgern versetzt man gedanklich in eine schmucklose Sauna. Mimik und Gestik bleiben, Orden, Kleidung und – indoors – professionelle Ausleuchtung entfallen. Nackt, vollends von Dekor entkleidet, reduziert sich ein Mensch auf die Wahrheit seines Körpers, Mimik, Gestik, seine Körpersprache. Denn der Körper spricht immer. Content pur.

Was man im Film als „Thrill“ bezeichnet, hat die Reizschwelle nach oben verlagert, und diese Verlagerung setzt sich durch Videospiele fort. Die Attribute „schneller“, „schriller“, „härter“, „sensationeller“ und „dramatischer“ werden zunehmend ergänzt durch den Parameter „realistischer“. Führt ein Weg der Kultur in „Second Reality“? Wird vielleicht die Second Reality irgendwann zur First Reality? Nimmt ein Teil der Menschen die Umwelt bald überwiegend auf Displays und Schirmen war? Als Schatten und Symbole, Icons und Messages, als Menüs, Action und Corporate Design auf PDAs, Handys, Laptops, Infoscreens, TV-Geräten und HDTV-Medienwänden? Viele Menschen in industrialisierten Ländern agieren tendenziell vereinzelt: Kommunikation mit (Büro-)Kollegen geschieht zunehmend über E-Mails. Das persönliche Gespräch ist seltener geworden; Soziologen sprechen von „Ent-Solidarisierung“.

Die IT-Branche verspricht (… Murmeltier-Effekt …?) jedem individuellen Kunden das jeweils aktuelle Maximum: Speed, Data Storage, Gigahertz, Terrabyte, RAM, Farbtreue, Auflösung, Connectivity und grenzenlose Vernetzung. Immer online, global erreichbar. Morgen ist zwar alles veraltet, doch was soll's …

Wie viele Reize hält sein Sensorium letztlich aus, und kann es zwecks Belastbarkeit durch mehr und stärkere Reize mutieren?

Auch hier stellt sich die Frage: Worum geht es eigentlich? Um Material und Wachstum? Um „Performance by Multitasking and Material“? Ist Technik für den Menschen da? Oder der Mensch für die Technik? (Routinierte Katzenliebhaber haben für sich längst eine Antwort gefunden: Der Mensch ist für die Katze da, und nicht umgekehrt – aber immerhin für ein Lebewesen …)

Wenn man die routinierte Maximierung betrachtet, kann man sich die Frage stellen: Wie ist der Mensch eigentlich „konstruiert“? Wie viele Reize hält sein Sensorium letztlich aus, und kann es zwecks Belastbarkeit durch mehr und stärkere Reize mutieren? Braucht der Mensch als kulturelles Wesen für sein Wohlbefinden (!) heute mehr Reize, mehr Speed, mehr Action als – sagen wir – vor 1000 ... 500 ... 200 ... 100 Jahren? Und: Welche psychischen und sozialen Folgen hat das? Welche sensorischen und kulturellen Bedürfnisse möchte der moderne Mensch befriedigen, damit er sich wohlfühlt – oder up-to-date ist?


„Soundfield Orchestra“ und „Opera To Relax“: Incentives für Herz und Kopf

Das Projekt „Soundfield Orchestra – Danceable Sound Art“ (www.soundfield-orchestra.com) ist hervorgegangen aus „Opera to Relax“ (www.opera-to-relax.com), welches der Autor dieses Beitrags zusammen mit der Sängerin und Atemtherapeutin Veronika Langguth 1995 gründete. Opera To Relax hat bislang sechs Alben auf den Markt gebracht. In den USA gab es sogar Chartplatzierungen. Soundfield Orchestra schafft, ähnlich wie Opera To Relax, durch autarke Klangkunst eine intim-persönliche Atmosphäre, sozusagen einen Zauberwald akustischer und visueller Reize mit großer Assoziationsfülle, ist in seiner Besetzung (mit insgesamt sechs Musikern) aber stärker instrumental ausgerichtet. Die Realisation zielt von vornherein auf ein exklusives, kulinarisches Surround-Erlebnis. Als Antwort auf Informations- und Reizüberflutung gilt auch hier das Prinzip der (lustvollen …) Reduktion. Als Resultat entstehen im Kopf des Zuhörers individuelle Bilder. Die entspannende Wirkung der Musik von Opera To Relax wurde 1998 durch eine Untersuchung an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Johann-Wolfgang-von-Goethe-Universität in Frankfurt am Main wissenschaftlich bestätigt. Zu einem wesentlichen Teil besteht die Erlebnisqualität bei Opera To Relax und dem Soundfield Orchestra im faszinierten Hinhören. Diese Erfahrung weitet die Sinne, weckt Kreativpotentiale. Während die Fantasie Raum zur Entfaltung erhält, wird der Hörsinn zum Lustobjekt. Zusammen mit der lauschenden Aufmerksamkeit des Hörenden schärfen sich alle anderen Sinne. Auch dieses gegenseitige Stimulieren der Sinne wurde durch wissenschaftliche Untersuchungen belegt. Der Stil bewegt sich weit außerhalb des Mainstream und unterscheidet sich von aller Musik, die ein etabliertes Format repräsentiert oder bekannte Stilrichtungen miteinander kombiniert. Das musikelektronische Sounddesign verwendet zum Teil Umweltklänge; dies können z. B. auch „Corporate Sounds“ eines Unternehmens sein. Bizarre Perkussion sorgt für Drive, ohrwurmige Melodien nehmen den Hörer liebevoll an die Hand. Die Klangsprache ist vieldeutig – und immer voller Überraschungen. Klangkunst dieser Art mit einer intensiven atmosphärischen Wirkung braucht geeignete Hör- und Erlebnisbedingungen. Als optimal haben sich etwa Großplanetarien und Sendesäle erwiesen. Live bieten sowohl das Soundfield Orchestra als auch Opera To Relax einen satten Ambient-Jazz-Sound, im Wechsel mit Momenten, in denen man „die Stecknadel fallen hört“: Strecken rhythmischer Trance gehen über in ruhige Momente – der Zuhörer geht auf eine Reise.

 

Als Antwort auf diese – zugegebenermaßen polemischen – Fragen hier nun einige mehr oder weniger bekannte Fakten und Beobachtungen. Psychosomatisch fundierte Krankheiten wie Erschöpfung, Antriebslosigkeit, Depression, Nervosität oder Schlaflosigkeit nehmen seit Jahren zu, ebenso stressbedingte organische Leiden wie Magengeschwüre, hoher Blutdruck, Herz-/Kreislauf- oder Verdauungsbeschwerden. Stress und Belastung am Arbeitsplatz führen z. B. nach einem deutschen Forschungsbericht von 2007 dazu, dass Beschäftigte mit ihrem Arbeitsplatz unzufrieden sind. Wen wundert’s? Im Auftrag des Bundesarbeitsministeriums fand das Kölner Marktforschungsinstitut Psychonomics heraus (ebenfalls 2007): Der Anteil der abhängig Beschäftigten in Deutschland, die mit ihrem Job „völlig zufrieden“ sind, ist von 16 Prozent im Jahr 2001 auf sechs Prozent gesunken. 62 Prozent der Befragten gaben an, dass der Arbeitsstress in den vergangenen Jahren zugenommen habe.

Anerkannt ist mittlerweile auch, dass die so genannte Geräuschverschmutzung bedenkliche Folgen für die Gesundheit hat. Einige – teils subjektive – Beispiele: Hohe Lärmpegel in vielen Großraumbüros und öffentlichen Einrichtungen, harsche, hallige oder scheppernde Akustik in Kantinen und Foyers, Radiogedudel in Frühstücksräumen von Hotels oder während der Taxifahrt. Unentrinnbar ist die Musikberieselung in Einkaufszentren oder Restaurants, die unfreiwillige Teilnahme am überlaut eingestellten Mp3-Player des Mitreisenden, nervendes Handyklingeln – von Straßen-, Flug- oder gar Discolärm ganz zu schweigen. Polizei- und Feuerwehrsirenen müssen heute etwa doppelt so laut sein wie vor 40 Jahren, damit sie sich durchsetzen. Das stresst auf Dauer. Die Konsequenzen: Überreiztheit, Konzentrationsschwierigkeiten, Erschöpfungszustände, Schlafstörungen – bis hin zu Tinnitus und den oben erwähnten psychosomatischen Erkrankungen.

Im Zeitalter von Stress, Überangebot und Ablenkung verspüren immer mehr Menschen auch, dass ihnen etwas Entscheidendes fehlt. Sie möchten ihren sensorischen und mentalen Apparat nicht noch stärkeren Reizen aussetzen, sondern suchen nach Wegen, Ausgeglichenheit zu finden, in die Balance zu kommen. Work-Life-Balance wird dafür neuerdings als „Etikett“ benutzt: Es geht um die Sehnsucht nach Reduzierung, nach Entschleunigung, nicht mehr von Höhepunkt zu Höhepunkt zu jagen. Diejenigen, die sich genervt fühlen von optischer, akustischer und virtueller SPAM, verhalten sich zunehmend „kulturell selektiv“, weil sie feststellen, dass sie das „immer Gleiche“ in wechselnden Verpackungen satt haben. Sie wünschen sich stattdessen Sinnlichkeit, die mit nur wenigen Mitteln erreicht wird und dabei hohe Qualität aufweist. Und dabei begründen sie einen Gegentrend.

Die Süddeutsche Zeitung brachte am 31. Oktober 2007 einen ausführlichen Beitrag mit der Überschrift „Wellness für die Seele – Auf der Suche nach dem spirituellen Chill-out.“ In Fußballstadien, Flughäfen und Shopping-Malls entstehen neue „Räume der Stille“. Ein Zitat daraus: „Die Spiritualität hat in den letzten Jahren einen neuen Stellenwert erlangt. Die meisten Menschen fordern Respekt für persönliche seelische Bedürfnisse – oder verlangen schlicht nach Ruhe und Rückzug.“

Im Zeitalter von Stress, Überangebot und Ablenkung verspüren immer mehr Menschen auch, dass ihnen etwas Entscheidendes fehlt

Dem Menschen geht es demzufolge besser, wenn er die Chance be- und ergreift, zu sich selbst zu kommen. Diese Erkenntnis ist hunderte von Jahren alt, traditionell sozusagen. Eine praktisch ausgerichtete „Philosophie“ wie das Zen hat sie bereits als Maxime etabliert. Heute wird sie nun wieder „neu entdeckt“. Hat das menschliche Sensorium womöglich doch bestimmte Grundkonstanten?

Der Antitrend, der hier skizziert wurde, lässt erfreulicherweise auch neue Kulturprodukte entstehen, so etwa die Musik- und Klangkunst-Projekte „Opera To Relax“ und „Soundfield Orchestra – Danceable Sound Art“ (siehe Kasten). Die kulturelle Gegenbewegung zum routinierten Maximieren existiert, bleibt aber in all dem Lauten, Schrillen und Bunten weitgehend noch ungehört, ungesehen und ungefühlt. Nun verträgt ein Alternativprodukt, das sich über neuen Content ohne Dekor und essentielle Effekte definiert, auch keinen Hype. Kunst dieser Art ist ein „Must-have-seen“ und ein „Talkabout“ vor einem ganz anderen, sozusagen komplementären Hintergrund. Minimalismus könnte so zu einem neuen, stillen (und heimlichen?) Superlativ werden ...

LITERATUR: